Zweiter Viertelstunde erstes Minutenfünf276
Rechte und Vorzüge der literarischen Erstgebornen

[492] Diese Rechte und Vorzüge lasse man den ersten Werken der jetzigen Schreiber, weil sie wissen: Anfang gut, alles gut; so daß sie gleich den Oliven durch den ersten Druck das feine Jungfernöl hergeben, und bei der zweiten, stärkern Presse nur Baumöl, bis sie endlich bei der dritten nur gemeines Brennöl liefern. Ich könnte die meisten Roman- und Vers-, Lust- und Trauerschreiber der neuern Zeit anführen, die wie Handwerker anfangs ein Meisterstück lieferten, und dann natürlich wie diese nichts als gemeine Arbeiten machten. Lessing gab seinen Nathan erst zum Beschlusse, indes die Neuern sogleich mit ihrem Besten beginnen und auf dieses nicht erst warten lassen, sondern nur auf ihr Schlechtes und Schlechtestes, das sie allmählich erst, mit der Zeit aber desto gewisser geben, indem sie, wenn jene Ältern sich aus der Tiefe hinaufschrieben, sich von ihrer Höhe hinunterschreiben. Wir Leih- und Lesebibliothekleser verdanken diesen Genuß des besten Weins am Anfange der Mahlzeit – wenn man geringfügige Einflüsse bei den schlechtern Weinen, wie vereinigte Geld- oder Handelliebe von Buchschreiber und Buchhändler zu gleich, nicht anschlagen will besonders dem Umstand, daß der Dichter jetzo nicht sowohl macht als gemacht wird von der Zeit, deren Blüte und Blumenlese und Destillation sein erstes Werk ist; dann hat er freilich nichts weiter einzuschenken, keinen neuen Wein-Ausbruch[492] nach dem alten, aber sie drücken fort und liefern zuletzt nach dem Strohwein das Stroh. – Die Frauen lesen sich am Ende eine schöne Prose in die Feder und machen nichts daraus als höchstens Briefe, aber die Jünglinge sich eine schöne Poesie und machen eben Bücher daraus.

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Wer diese Abschnittchen anführte, müßte, wenn er nicht obenhin wie ein Franzose zitieren wollte, in jedem Falle schreiben: Miserikordias-Vorlesung. Zweite Viertelstunde. Erstes Minutenfünf. So muß ich ja selber fremde Werke, obgleich mit unendlichem Überdrusse an der Weitläuftigkeit oft so anfuhren: Des ersten Bandes zweiter Teil. Dritte Abteilung, wo eine einfach fortlaufende Abteilung in lauter Bände viel vernünftiger wäre, aber nicht gelehrter.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 492-493.
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