§ 62
Verhältnis der Fabel zum Charakter

[229] Herder setzt in seiner Xten Adrastea die Fabel über die Charakteristik; da ohne Geschichte kein Charakter etwas vermöge, jeder Zufall alles zertrennen könne und so weiter.155 Allein wie in der[229] Wirklichkeit eben der Geist, obwohl in der Erscheinung später, doch früher war im Wirken als die Materie, so in der Dichtkunst. Ohne innere Notwendigkeit ist die Poesie ein Fieber, ja ein Fiebertraum. Nichts ist aber notwendig als das Freie; durch Geister kommt Bestimmung ins Unbestimmte des Mechanischen. Die tote Materie des Zufalls ist der ganzen Willkür des Dichters unter die bildende Hand gegeben. Wer z.B. im entscheidenden Zweikampf erliegen – welches Geschlecht auf dem aussterbenden Throne geboren werden soll; – das zu bestimmen, bleibt in des Dichters Gewalt. Nur aber Geister darf er nicht ändern, so wie Gott uns die Freiheit bloß geben, nicht stimmen kann. Und warum oder wodurch hat der Dichter die Herrschaft über die knechtische Zufalls-Welt? Nur durch ein Ich, also durch dessen Charakter erhält eine Begebenheit Gehalt; auf einer ausgestorbenen Welt ohne Geister gibts kein Schicksal und keine Geschichte. Nur am Menschen entfaltet sich Freiheit und Welt mit ihrem Doppelreiz. Dieses Ich leihet den Begebenheiten so viel mehr als sie ihm, daß es die kleinsten heben kann, wie die Stadt- und die Gelehrten-Geschichten beweisen. In der besten Reisebeschreibung folgen wir den unbedeutendsten Personalien neugierig nach; und der Verfasser dieses sah unter der Lesung der Charaktere von la Bruyere häufig in den Schlüssel hinten, um die Namen von getroffnen Personen kennenzulernen, die ihn und Europa nicht im geringsten interessieren oder ihm bekannt sind.

Was gibt ferner dem Dichter – im Schwerpunkt aller Richtungen der Zufälle – den Stoß nach einer? Da alles geschehen, jede Ursache die Welt-Mutter von 6 Jahrtausenden oder von einer Minute werden und jede Berg-Quelle als ein Strom nach allen Weltgegenden hinab- oder in sich zurückfallen kann; da jeden Zufall ein neuer, jedes Schicksal ein zweites zurücknehmen kann; so muß doch, wenn nicht ewig fieberhafte kindische Willkür und[230] Unbestimmung hin- und herwehen soll, durchaus irgendein Geist ins Chaos greifen und es ordnend bändigen; nur daß hier die Frage und Wahl der Geister bleibt.

Diese führt eben zum Unterschiede des Epos und des Drama.

155

Er sagt: »Die also in der Epopöe wie im Trauerspiel den Charakter obenan setzen und aus ihm, wie in der Poesie überhaupt, alles herleiten wollen, knüpfen Fäden, die an nichts hangen, und die zuletzt ein Windstoß fortnimmt. Lasset beiden untrennbar ihren Wert, der Fabel und dem Charakter; oft dienen beide einander und vertauschen ihre Geschäfte, das Göttliche dem Menschlichen, die Fabel dem Charakter, zuletzt aber erscheinets doch, daß es nur Herablassung, Mitteilung der Eigenschaften war, und ohne geordneten Zusammenhang der Fabel kein Charakter etwas vermachte. Als die Welt begann, waren vor Konstruktion Himmels und der Erde charakteristische Geschöpfe möglich? In welcher Arche hauseten sie? ja waren auch in einem Limbus, ehe die Welt gedacht war, zu der sie gehören sollten, ihre Gestalten und Wesen nur denkbar? Wer also in Kunst und Dichtkunst das Charakteristische zu ihrer Haupteigenschaft macht, aus der er alles herleitet, darf gewiß sein, daß er alles aus nichts herleite.«

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 229-231.
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