§ 80
Poetische Landschaftmalerei

[288] Schöne Landschaften sind vom Dichter und Maler leichter als Menschen zu zeichnen; weil bei jenen die Weite des Spielraums in[288] Farbe und Zeichnung und die Unbekanntschaft mit dem Gegenstand die Strenge der Ansprüche mildert. Aus den Landschaften der Reisebeschreiber kann der Dichter lernen, was er in den seinigen – auszulassen habe; wie wenig das chaotische Ausschütten von Bergen, Flüssen, Dörfern und die Vermessungen der einzelnen Beete und Gewächse, kurz, der dunkle Schutthaufe übereinander liegender Farben sich von selber in ein leichtes Gemälde ausbreite. Hier allein gilt Simonides' Gleichsetzen der Poesie und Malerei; eine dichterische Landschaft muß ein malerisches Ganzes machen; die fremde Phantasie muß nicht erst mühsam, wie auf einer Bühne, Felsen und Baumwände aneinander zu schieben brauchen, um dann einige Schritte davon die Stellung anzuschauen: sondern ihr muß unwillkürlich die Landschaft, wie von einem Berge bei aufgehendem Morgenlicht, sich mit Höhen und Tiefen entwickeln.

Auch dies reicht nicht zu, sondern jede muß ihren eignen einzigen Ton der Empfindung haben, welchen der Held oder die Heldin angibt, nicht der Autor. Wir sehen die ganze Natur nur mit den Augen der epischen Spieler. Dieselbe Sonne geht mit einem andern Rote vor der Mutter unter, welche der Dichter auf den Grab-Hügel eines Kindes stellt, und mit einem andern vor der Braut, welche auf einem schönern Hügel dem Geliebten entgegensieht oder zur Seite steht. Für beide Abende hat der Dichter ganz verschiedene Sterne, Blumen, Wolken und Schmetterlinge auszulesen. Wird uns die Natur roh und reich ohne ein fremdes milderndes Auge nahe vor unseres geschoben, folglich mit der ganzen Zerstreuung durch ihre unabsehliche Fülle: so bekommen wir einen Brockes, Hirschield und zum Teil einen Thomson und Kleist; jedes Laub-Blatt wird eine Welt, aber doch will der Fehl-Dichter uns durch eine Laubholzwaldung durchzerren. – Dazu kommt: in der äußern Natur erhöht die Fortwirkung des ausgebreiteten lebendigen Ganzen jeden Lichtstreif, jeden Berg und jeden Vogelton, und jede Stimme wird von einem Chore begleitet; aber der poetischen Landschaft, welche nur Einzelnes nach Einzelnem aufbreitet, würde das steigende Ganze völlig mangeln und jede Einzelnheit unbegleitet und nackt dastehen, wenn nicht[289] ein inneres poetisches Ganzes der Empfindung das äußere erstattete und so jedem kleinen Zuge seine Mitgewalt anwiese und gäbe.

Die Landschaften der Alten sind mehr plastisch; der Neuern mehr musikalisch, oder, was am besten ist, beides. Goethens beide Landschaften im Werther werden als ein Doppelstern und Doppelchor durch alle Zeiten glänzen und klingen. Es gibt Gefühle der Menschenbrust, welche unaussprechlich bleiben, bis man die ganze körperliche Nachbarschaft der Natur, worin sie wie Düfte entstanden, als Wörter zu ihrer Beschreibung gebraucht; und so findet man es in Goethe, Jacobi und Herder. Auch Heinse und Tieck169, jener mehr plastisch, dieser mehr musikalisch, griffen so in die unzähligen Saiten der Welt hinein und rührten gerade diejenigen an, welche ihr Herz austönen.

Gleichwohl sind nicht nur Brockes, Hirschfeld und die Reisebeschreiber zu studieren – um Farbenkörner aufzusammeln für Gemälde und also um nicht den Abendstern, wie Klopstock170 und der Romanschreiber Cramer, abends aufgehen zu lassen –, sondern die große Landschaft-Natur selber ist fast abzuschreiben. Sie hat in der Tat das Große, daß sie nirgend klein ist. Das Studium der bloßen menschlichen Natur liefert oft Farben, welche der Dichter wegwirft; aber am Sternen- und Wolken-Himmel und auf Bergen und unter den Blumen geht nichts Unedles vor, und ihr könnt jede Farbe davon einmal, nur nicht in jedem Gemälde, gebrauchen.

Der phantasie- und humor-reiche Baggesen ver langt, ein Dichter solle nur einmal einen Sonnen-Untergang oder – Aufgang und so alles Große malen. Der Dichter, für seine Rechnung, sollt' es gewiß – denn die kindliche Lenz-Heiligkeit eines ersten Ausdrucks der lange vollen und übervollen Seele hat kein zweiter mehr –; aber für jeden Helden braucht er neue und andere Morgen, für jede Heldin dergleichen Abende; folglich wie unter den unzähligen[290] Dichtern bei jedem die Sonne in einer andern Himmelgegend aufging und wir so viel Aufgänge als Geister haben: so muß dasselbe für die Geister gelten, welche derselbe Dichter bringt.

Sobald eine Landschaft nicht musikalisch (durch Gemütstimmung), sondern nur plastisch (besser optisch) zu malen ist: so wird zur letzten Darstellung, welche weniger auf Schönheit als auf Lebendigkeit der Körperreihe achtet, das geschilderte Auge des Zuschauers am meisten dienen, wenn man dasselbe so meisterhaft schauen lässet, wie Goethe immer tut, z.B. vortrefflich in der Stelle Wilhelm Meisters, wo die Frachtwagen voll Schauspieler in der Nacht dem gräflichen Schlosse mit deren gewaltigen Erwartungen zufahren, die die funkelnden Augen als Leuchtkugeln auf das verdunkelte Schloß hinwerfen. Durch welche Künste entwickelt er uns ein so lebendig blühendes Aussichtstück? Durch die oben genannten Künste im Darstellen der Menschengestalt: wir sehen durch das Auge der spähenden Genossenschaft und halten es vor das unsrige als Augenglas – Regen und Nacht heben als Folien die fernen Lichter auf den Treppen und an den Schloßfenstern, und diese das ferne Schloß heraus – und jeder Rad-Umlauf rollt am Bilde weiter auseinander. Ein Dichter kann durch solchen rechten Gebrauch abnehmender Ferne, also herantretender Nähe, sein Gestalten-Gemälde mit mehr Wirksamkeit, da jede erschienene Linie die kommende festhält, wenigstens anfangs ausbreiten als selber der Maler, bei welchem das Auge auf seinem Gemälde im Anfange unter den Richtungen zum Verbinden irren und suchen muß.

So unentbehrlich benannten Landschaften, z.B. einer italienischen, Lokal- oder Ortfarben sind, so werden sie doch häufig von Dichtern nur mit dem allgemeinen Farbenbrei des Himmels und der Erde angestrichen – aus einer beinah verzeihlichen Täuschung. Jede Empfindung hält und fühlt sich individuell und bestimmt; diese bestimmte für eine bestimmte Landschaft schiebt sich dem Dichter auch für eine bestimmte Darstellung der letzten unter. Noch öfter begegnet dies Reiseliebhabern, die sich ins Dichten hineindichten, z.B. dem Reisenden Fischer, der den Genfer See[291] fast in alle landschaftliche Reize einfäßt, die Genfer etwan ausgenommen.

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Auch werde nie das schönste Werk Gleim des Dichters, Halladat, vergessen, denn was das schönste Werk Gleim des Menschen anlangt, so weiß er, der Deutsche, vielleicht es selber erst, seitdem er keiner mehr, sondern hinüber ist.

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Mess. 1. Gesang S. 25.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 288-292.
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