§ 83
Ihr Reichtum

[299] Ein Deutscher, der eine deutsche Sprachlehre lieset, dankt dem Himmel, daß er sie zum Teil mitbringt und daß man ihm gerade die schwerste erspart. Da aber wir Deutschen gern Bücklinge nach allen 32 Kompaßecken und den Zwischenwinden hinmachen, um sowohl alle Völker zu gewinnen als etwas von ihnen: so haben wir oft recht sehr gewünscht, unsere Sprache möchte englischer, französischer, regelmäßiger, besonders in den unregelmäßigen Zeitwörtern, überhaupt mehr zu jener von den Philosophen gesuchten allgemeinen Sprache zu machen sein, damit man uns auswärts leichter erlernte. Gäb' es nur eine ausländische neben unserer, z.B. die gallische: so hätten wir längst uns jener so vielen deutschen Wörter und Wendungen entschlagen, welche noch als wahre Scheidewände zwischen unserer und der französischen Sprache bestehen, und hätten nur folgende behalten: »bei Gott ach lieber Gott – Krieg – Abenteuer – Zickzack – Landsknecht – Bier und Brot – Habersack – Halt – was ist das«; – weil sie von selber gutes reines, nur deutsch geschriebenes Französisch sind: bigot – St. Alivergot – cri – aventure – zigzag – landsquenet – birambrot – havresac – halt – un vas-ist-das.173 Allerdings erreichten[299] wir sonst diesen Vorteil noch leichter, da wir dem ganzen Frankreich selber als einer maîtresse de langue, das sonst nur einzelne Maîtres herausschickte, ganze Städte, z.B. Straßburg, zur Sprachbildung und Übersetzung ins Französische anvertraueten.

Auch unter den Gründen für die Vertauschung deutscher Buchstaben gegen lateinische wird – was im Munde eines jeden andern Volkes knechtisch klänge – der Vorteil mit angeführet, welchen der Ausländer haben würde, wenn er an der Stelle unserer Schrift auf einmal seine eigne anträfe. Nur muß man uns das Verdienst eines Opfers nicht durch die Anmerkung nehmen, daß wir ja gar keine eigne haben, sondern verdorbne lateinische; denn diese ist selber wieder verdorbene oder vergröberte griechische, und diese kehrt am Ende in die morgenländische zurück; daher die Römer sich den Griechen durch Annahme griechischer Buchstaben hätten nähern können, und diese durch eine orientalische Druckerei sich der ganzen aus dem Orient abstammenden Welt.

Indes sind wir im Grunde nicht so ausländisch, als wirs scheinen; wir wünschten nur gern alle Vorzüge und Kränze vereinend zu besitzen und sehen mehr nach den Zielen vor uns als nach den Zielen hinter uns. Ungemein erheben wir eine fremde Literatur in corpore und singen ein Vivat vor einer ganzen Stadt oder Landschaft draußen vor den Mauern und Grenzen. Tritt aber ein einzelner Autor hervor und will einiges vom Vivat auf sich beziehen: so unterscheiden wir ihn ganz von der Menge und Stadt und setzen tausend Dinge an ihm aus. Wie anders, wenn wir von unserer Literatur sprechen! Ihr Corpus wird hart angelassen; nicht eine Mauer zu ihrem Ruhm-Tempel bauen wir aus; hingegen jeden einzelnen Autor setzen wir auf den Triumphwagen und spannen uns vor.

Wir drucken die etwas einfältigen Urteile der Franzosen über uns ab, um uns recht abzuärgern; wie aber, wenn ein Pariser unsere über die Pariser nachdruckte? – Indes eben jenes Tun und dieses Unterlassen offenbaren freilich, daß wir weder die gallische Eitelkeit, welche Europa für ihr Echo und Odeum hält, noch den englischen Stolz besitzen, welcher kein Echo begehrt. Nur vielleicht das Schicksal unserer Philosophie, deren Kamele nicht[300] durch das Nadelöhr eines Pariser oder Londner Tors und Ohrs durchgehen, stellet uns von dem kleinstädtischen Hausieren nach ausländischem Lobe her.

Wir kehren zu bloßem Deutsch zurück. Desto besser, sag' ich, desto bereicherter ist es, je mehr Sprach-Freiheiten, Wechselfälle, Abweichungen eben da sind; für uns, die wir aus der Regel der Regeln, aus dem Sprachgebrauche schöpfen, gibt es keine Unregelmäßigkeit, nur für den Ausländer, der erst unsern Sprachgebrauch, d.h. unsern Gesetzgeber dem seinigen unterwerfen und unsere Gesetze durch seine abteilen und erlernen muß. Denn gäb' es eine allgemeine Regel, so hätten alle Sprachen eine Grammatik.

Ich bin daher gerade für alle Unterschiede von fremden Sprachen; und ebenso für alle Doppelwörter der Grammatik. Kann man glimmte und glomm sagen, nur gerächt (nach Heynatz), nur gerochen (nach Adelung): desto besser, so behaltet beide für den Wechsel und die Not. Daß man statt des langweiligen welcher auch der und im ältern Stile so174 setzen kann – ferner statt als auch wie, ja denn – ferner statt des gemeinen anfangen und des spröden anheben das alte beginnen, welches seine Vorstecksilbe nicht ans Ende werfen kann, nicht zu gedenken seines Jambus im Imperfektum175 – – recht erwünscht und brauchbar sind ja alle diese Fälle, nicht dazu, um einige zu vertilgen, sondern um alle zu benutzen nach Verhältnis. Sogar die abgekommenen Adjektiv-Umbildungen der Adverbien sollten als Zeugen eines besondern Bildung-Triebes und als Erben eines reichen Sinnes noch bescheiden fortgrünen; man umschreibe z.B. einmalige, etwanige, sonstige etc. etc. und zähle darauf die Zeilen. – So dankt dem Himmel für den vierfachen Genitiv: Liebe-Mahl, das Mahl der Liebe, der Liebe Mahl, das Mahl von der Liebe; und bittet den[301] Franzosen, es zu übersetzen; auch ärgert euch dabei zu spät über Klopstock, welcher die Genitivs-Voranstellung in einer grammatischen Übermut-Stunde schwer allen Prosaisten untersagte.176 Desgleichen dankt für den doppelten Genitiv des Zeitworts: einer Sache genesen und von einer Sache genesen. – Hat man einmal ähnlich-lautende, aber unähnlich bedeutende Wörter: so töte man doch keines zum erbenden Vorteil des andern. Z.B. Ahnen bedeutet vorausfühlen, Ahnden strafen; warum will man beides mit einem Worte ausdrücken, zu welchem einige Ahnen, andere Ahnden wählen? Wie, wenn ich nun sagen wollte: ich ahne das Ahnden, ja man wird wieder das Ahnen ahnden; d.h. ich ahne (errate) das kritische Ahnden (Strafen) dieser Stelle, denn man wird sogar dieses Erraten strafen wollen. Wenn Voß dagegen einwirft, das lateinische animadvertere habe dieselbe Doppeldeutung: so sag' ich: desto schlimmer! Wenn andere sagen: an und and wurde erst später aus eins zur zwei: so sag' ich: desto besser! Auch hat Ahnen für sich noch das Schwanen (mir schwant es), das einige vom weissagenden Schwanengesang ableiten.

Unsere Sprache schwimmt in einer so schönen Fülle, daß sie bloß sich selber auszuschöpfen und ihre Schöpfwerke nur in drei reiche Adern zu senken braucht, nämlich der verschiedenen Provinzen,177 der alten Zeit und der sinnlichen Handwerkssprache.178 Aber erstlich, warum dürfen wir uns gegen Provinzialismen, welche nur eine Viertelzeile einnehmen, zumal in Prose, mehr sträuben als ein Homer sich gegen Dialekte, welche vielleicht eine Seite färben, oder als überhaupt die Griechen, bei welchen der[302] attische Dialekt nicht eher zur Oberherrschaft gelangte als unter der Oberherrschaft der – Römer, dieser Sklaven-Säemänner und Pflanzer der Sklaven? – Die einzige und rechte Antwort ist: die Sache ist nicht wahr; denn man geb' uns nur Kraft-Leute, welche aus Schwaben – aus der Lausitz – aus Niedersachsen – aus den Rheingegenden landschaftliche Wörter zu uns herübersteuern, z.B. einen Schiller, Lessing, Bode, Goethe, so empfangen wir die vaterländischen Verwandten nach Ehrgebühr.

Wollte man die bedeckten Goldschachten altdeutscher Sprachschätze wieder öffnen: so könnte man z.B. aus Fischarts Werken allein ein Wörterbuch erheben. Ein frommer Wunsch wär' es und doch zu erfüllen, von Heinrich Voß und einigen andern –, ein bloßes Wörterbuch aller seit einigen Jahrhunderten ergraueten Wörter zu bekommen, von welchen wir keine ähnlichen stammhaltigen Enkel haben. Ja, jedes Jahrhundert könnte sein besonderes Scheintoten-Register oder Wörterbuch dieser Art erhalten. Wollen wir Deutschen uns doch recht der Freiheit erfreuen, veraltete Wörter zu verjüngen, indes Briten und Franzosen nur die Aufnahme neugemachter wagen, welche sie noch aus ausländischem Tone formen, wenn wir unsere aus inländischem. Der immer komplette Deutsche kann leichter jedes Buch vollständig schreiben als ein Wörterbuch seiner Sprache, welchem jede Messe einen Ergänzband voll neuester Wörter nachschickt; und das Campesche ist daher, obwohl schwer zu machen, doch leicht zu übertreffen. So reich springen aus dem Boden unserer Sprache überall neue Quellstrahlen auf, wohin der Schriftsteller nur tritt, daß er fast mehr zu meiden als zu suchen hat, und daß er oft im feurigen Gange der Arbeit kaum weiß, daß er ein neues Wort geschaffen. Diese Verwechslung eines neuen mit einem alten, dieses ungesuchte Entgegenschlüpfen führt auch zugleich den besten Beweis für den Wert eines neuen Worts; sogar Kindern entfliegen unbewußt neue sprachrechte Wörter; und der Verfasser setzt zu solchen Beispielen, welche er schon in der Levana angeführt, noch dieses, daß gerade dasselbe kleine Mädchen, welches für Fledermaus Luftmaus erfand, heute, da von Fernglas und Vergrößerglas die Rede war, bemerkte, man sollte[303] statt des letzten sagen: Naheglas. Das Kind hat recht; denn das Vergrößern hat das Sternrohr mit dem Mikroskop gemein.

In Schlegels Shakespeare und in Vossens Übersetzungen läßt die Sprache ihre Wasserkünste spielen, und beider Meisterstück geben dem Wunsche des Verfassers Gewicht: daß überhaupt die Übersetzer wissen möchten, wie viel sie für Klang, Fülle, Reinheit der Sprache, oft sogar mehr als selber der Urschriftsteller, zu leisten vermögen, da ihnen, wenn dieser über die Sache zuweilen die Sprache vergißt, die Sprache eben die Sache ist.

Dichter übrigens führen, sobald man ihnen eine gelehrte Wahl zutraut, neue Wörter am leichtesten ein, weil die Dichtkunst sie durch ihre goldenen Einfassungen heraushebt und dem Auge länger vorhält. Man erstaunt über den Zuwachs neuer Eroberungen, wenn man in Lessings Logau oder in den alten Straf-Rezensionen Klopstocks und Wielands das Verzeichnis erweckter oder erschaffner oder eroberter Wörter lieset, welche sich jetzo mit der ganzen Völkerschaft vermischt und verschwägert haben. Sogar das indeklinable »wund,« das es nicht weniger war als »unpaß, feind,« hat Wieland durch einen Aufsatz für Rousseaus Band-Lüge für uns alle deklinabel gemacht. Jetzige Jünglinge, welche das Wort bieder in der Schule schon hörten, müssen sich wundern, daß Adelung in der deutschen Sprachlehre für Schulen und in der vollständigen Anweisung zur deutschen Orthographie und in den beiden Bänden Über den deutschen Stil – im Wörterbuch ohnehin – gegen das gute, von der Vorzeit geborne und von Lessing wiedergeborne Wort soviel Kriegs-Geschrei erhebt. Adelung selber hingegen, so wie den Meißner Klassen – als den Kreisausschreibenden Sprach-Mächten und Reichsvikarien und Reichs-Oberhäuptern des Deutschen – will das Einführen und Vorstellen von Neulingen weniger gelingen; fast leichter bringt ein Wort sie als sie dieses in Gang. Adelung hatte z.B. einiges Verlangen geäußert, das neue Wort Gemütsstellung statt Stimmung – das er folglich höhern Orts her hatte, weil seines Wissens nur die höhern Meißner Klassen die Sprache bilden – etwan gemein in den tiefern Klassen, nämlich unter den Autoren, und dadurch allgemein zu machen; noch liegt das Wort bei ihm und wird nicht gangbar.[304]

Ich schlage es den Komikern zur Nutzung und Verbreitung vor; ihnen sind ja dergleichen Erfindungen ein schöner Fund.179 – Eines der besten Mittel, ein neues Wort einzuführen, ist, es auf ein Titelblatt zu stellen. Noch gedeihlicher und weiter pflanzen Zeitungsblätter neue Wörter (unblutige Neuigkeiten) fort, z.B. Heerschau statt Révue.

Neue Wendungen und Wortknüpfungen drängen sich am schwersten oder langsamsten durch die enge Pforte in die lebendige Sprachwelt, z.B. viele französische von Wieland, eigentümliche von Lessing, von Klopstock; erstlich, weil die Annahme einer ganzen fremden neuen Wendung einem halben Raube und Nachhalle ähnlich sieht, und zweitens, weil sich ihre Feierlichkeit nicht so leicht wie ein kurzes Wort mit der Anspruchlosigkeit der Gesellschaft und des gemeinen Stils verflicht. Indes hatten Klopstock (als Dichter) und Herder und Lessing (als Prosaisten) schon von 1760 bis 1770 in einem Jahrzehend durch die Keckheit und[305] Kraft ihrer Wortfügungen (so wie ihrer Wortbauten) die Sprache mit einer Freiheit, Vielgliederung und Gelenkigkeit ausgesteuert, welche später von Goethe und der ganzen arbeitenden deutschen Schule wachsende Fülle bekamen. Aber ein Jahrhundert voll hundert schreibender Adelunge, Biester, Nicolais und ähnlicher hätten die Sprache nicht um eine Spanne freier gelüftet, ja kaum um eine enger gekettet. Überhaupt bildet und nährt die Prose ihre Sprachkraft an der Poesie; denn diese muß immer mit neuen Federn steigen, wenn die alten, die ihren Flügeln ausfallen, die Prose zum Schreiben nimmt. Wie diese aus Dichtkunst entstand, so wächst sie auch an ihr.

Wenn man den Reichtum unserer Sprache, gleichsam eines Spiegelzimmers, das nach allen Seiten wiedergibt und malt, am vollständigsten ausgelegt sehen will: so überzähle man den deutschen Schatz an sinnlichen Wurzel-Zeitwörtern.180 Überhaupt nur durch die Gewalt über die Zeitwörter erhält der Autor die Herrschaft über die Sprache, weil sie als Prädikate dem Subjekte am willigsten zulaufen und sich in jede grammatische Einkleidung am leichtesten zerteilen; z.B. aus: die jetzige Zeit blüht, wird leicht:[306] sie treibt Blüten, steht in Blüte, steht blühend da, die blühende Zeit, die Blüten der Zeit etc. Wer die Sprache mit erschaffnen Wörtern zu bereichern sucht, lebt meistens an alten verarmet; solche Blumen sind nur aus kranker Schwäche gefüllte und treiben neue Blätter. Lavater hat eben darum mehr Wörter geschaffen als Lessing und Herder und Goethe zusammen; sooft er sich nicht auszudrücken wußte, schuf er. 181 Wer die meisten neuen im sprachlahmen Drange der Unkunde erfindet, sind Kinder. Sonst suchte ein Schriftsteller das Wagen eines neuen Wortes, z.B. Anno 1770 der Übersetzer Hemsterhuis das Wort Wesenheit statt Essence, oder Bode das Wort Empfindsamkeit, mit einem gelehrten Ansehen, beide mit Lessings seinem, zu entschuldigen; jetzo läßt jeder sich hinlaufen und fortspulen und bittet so wenig um Verzeihung neuer Wörter, als wären es neue Gedanken. Aber jenen Neulingen hängen zwei Nachteile an; – daß sie in der scharf objektiven Dichtkunst, in der rein epischen, in der rein komischen, mit ihren vordringenden Ansprüchen mehr stören als wirken; und dann, daß sie da, wo die Malerei ein Blitz ist und kein Regenbogen, viel zu lange sind. Je länger aber ein Wort, desto unanschaulicher; daher geht schon durch die Wurzel-Einsilbigkeit der »Lenz« dem »Frühling« mit seinen Ableitern vor, ebenso »glomm« dem »glimmte«. Da man nicht neue Wurzeln erschafft, sondern nur die alten zu Zweigen und Ausschößlingen nötigt und verlängert: so können sie selten ohne vor- und nachsilbiges Schlepp-Werk, oder doch nicht ohne Spuren von dessen Abschnitte erscheinen.

173

Nach du Chesne nahmen die Franzosen aus Haß gegen die Deutschen das Wort Bigot (bei Gott) an – St. Alivergot, ein Heiliger, ist unser: ach lieber Gott (beides in Kästners Schriften B. 2. Seite 129) – Krieggeschrei hieß selber Krieg, von Cri kommt Krieg (Geschichte der deutschen Nation von Anton S. 152) – Aventure, Zigzag, Landsquenet, Birambrot, Havresac Halt und Un vas-ist-das (das Rückfenster am agen) übersetzen sich selber.

174

Ja gegen das was, z.B. in: »das Gute, was statt welches du tust,« sollte man Wohiklangs und der Kürze wegen sanfter sein.

175

Lessing führte beginnen aus dem Alter zu uns, und seine Muse verjüngte es; Adelung schickte aus Dresden die stärksten Beweise heraus und auf Messen umher, er habe das Wort als einen halbtoten Greis gekannt gleichwohl bleibt es als Jüngling unter uns wohnen und kann wohl so lange leben als sein Feind.

176

Siehe dessen grammatische Gespräche S. 309: »Mir kommt es vor, daß nur die Dichtkunst ›des Stromes Geräusch‹ sagen darf« – Und dies durfte er sagen, aber nicht folgendes: »Wenn ich in prosaischen Schriften blättere und diese poetische Umsetzung darin antreffe, so fange ich gewiß nicht an zu lesen. Denn ich weiß nun schon, woran ich mit dem Verfasser bin..« Woran? also vorzüglich mit Johannes von Müller, Herder, Goethe, Schiller, und mit wem sonst nicht? Wahrlich man hat großen Schriftstellern ganz andere Stellungen zu vergeben, als die des Zeugefalls ist.

177

Manche Provinzialismen sind der Kürze unentbehrlich, wie das oberdeutsche heuer, heurig (in diesem Jahre,) oder das Goethesche hüben als Gegensatz des drüben

178

Ich fange alphabetisch an: abbeizen, abbauen, Abbrand, abfalzen, abfleischen, abholzen, abjochen, abknabsen, abpfählen, abplätzen etc. etc.

179

Wenn Adelung wie Nicolai gerade an allen unsern genialen Dichtern, ja sogar an den liberalen Sprachforschern Heynatz und Voß Feinde hat: so schreib'er es teils seinem Schweigen über die Erbschaft fremder Sprachschätze (z.B. von Heynatz, Ramler) zu, teils seinem Mangel an allem philosophischen und poetischen Sinne. Wer wie A. die Gellerte von unsern wahren Dichtern und Genien nur in der Lebhaftigkeit verschieden findet wer das Genie für ein Mehr der niedern Seelenkräfte ausgibt und bei einer »fruchtbaren Einbildungskraft« fragt (Über den Stil II. S. 308): »wer hat die nicht?« und darauf antwortet: »der immer am meisten, der die höhern Kräfte am wenigsten bearbeitet und geübt hat«, – kurz, wem die Besten mißfallen muß sich nicht wundern, daß er ihnen noch mehr mißfällt, besonders da unter allen geistesarmen Mustern des Stils, die er wählt und lobt, keines so dürftig ist als das, welches er selber gibt. Ich führe zum Beweise die Zueignung seiner Sprachlehre für Schulen an Herzberg an: »Ew. – haben unter so vielen andern erhabenen Vorzügen auch die deutsche Sprache Ihrer Aufmerksamkeit gewürdigt und ihre Bearbeitung der unter Dero weisen Leitung von neuen aufblühenden königl. Akademie der Wissenschaften empfohlen; ein Verdienst, welches Dero Namen auch in den Jahrbüchern dieser von den Großen der Erde nur zu sehr verachteten Sprache unvergeßlich machen wird. Leibnizens Entwurf bei Errichtung dieser Akademie, nach welchem die Ausbildung der deutschen Sprache mit in den Wirkungskreis derselben eingeschlossen ward, war eines so großen Mannes würdig; aber es blieb einem so großen Minister, welcher in den Gefilden der Wissenschaften ebensosehr glänzt als in dem Gebiete der Staatskunst, vorbehalten, ihn nach mehr als einem Jahrhundert werkstellig zu machen und dadurch der Schöpfer aller der bisher verspäteten Vorteile zu werden, welche der Sprache daraus zufließen müssen.«

180

Der Verfasser hat schon vor vielen Jahren ein kleines Wurzel-Register der sinnlichen und ein größeres aller Zeitwörter verfasset zum allgemeinen Besten seiner selber; die Haupteinteilung ist in die intransitiven und in die handelnden Verba. Der intransitiven der Bewegung nach einem Orte z.B. sind über 80 (gehen, schreiten, rennen, stürzen etc.), der handelnden über 70 (legen, stellen, werfen etc.), jetzo diese unendlich fortgepflanzt durch: be, an, ein, auf, ver etc. etc. Für den Schall haben wir 100; vom allgemeinen an: rauschen hallen etc. zum bestimmtern: knallen, schmettern etc.; dann zum musikalischen: klingen, tönen etc.; dann zum menschlichen: flüstern, lallen, plärren etc.; dann zum reichen tierischen: schnattern, piepen, zirpen etc. – Als kürzeste Probe setz' ich die Verba einer gewissen Bewegung im Orte, nämlich der zitternden, her: zittern, wirbeln, wanken, schwanken nicken, zappeln, flattern, zucken, tanzen, taumeln, gaukeln, schaukeln, beben, wogen, wallen, schwindeln, wedeln, wackeln, schweppern, schlottern, bammeln; jetzo noch enger: runzeln, kräuseln, fluten, gären, kochen, wirbeln, sprudeln, brudeln, strudeln, sieden, ringeln, perlen, flackern; – dann handelnd: regen, rühren, schwenken, wiegen, rütteln, gurgeln, schütteln, schüttern, schaukeln, schwanken, kräuseln, fächern, quirlen, wirbeln, ringeln, fälbeln lockern. – Ungeheuer ist der Reichtum an den Wörtern a) des Sterbens b) und des Tötens; aber am meisten des Hassens und Trennens. Nicht halb so reich ist die Sprache für paaren, gatten etc.; ganz arm für Wörter der Freude.

181

Doch bleibe seinen neuen Formen der physiognomischen Form, seinen gestaltenden Schöpfung-Wörtern der Ruhm.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 299-307.
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