Die Sommer-Nässe, an Herrn Gleim

[159] 1761.


Freund, in Berlin die schönen Kinder alle

Beklagten, daß aufs Angesicht,

Durch ihren Schirm die Macht der Sonne falle

Sie schonte Stirn und Wange nicht!


Auch alle Philosophen, unter denen

Dein Sulzer seine Stelle schmückt,

Beklagten sich, und sassen sinnlich stöhnen,

Bis Kühlung ward herabgeschickt.


Nun träufelt sie aus milden Wolken nieder

Und nun begehrt den Sonnenschein

Der unzufriedne Landmann klagend wieder:

Gott feuchtet Heu und Garben ein!
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Den Wandrer drückt der nassen Kleider Bürde,

Nach heitren Tagen seufzet er;

Und der Soldat klagt: Von dem Regen würde,

Rost auf dem glänzenden Gewehr!


Die schönen Kinder fühlen lange Weile,

Ihr Auge fragt das Wetter-Glas:

Ob bald die Sonne das Gewölk zertheile?

Den Tannenhäyn macht es zu naß.


Und selbst dein Sulzer fragt mit trüben Blicken

Ob bald der Garten trocken ist?

Wo er in grün und bunten Meisterstücken

Beweise von dem Schöpfer liest!


So ists o Freund, wir wünschen und empfangen;

Und die Begierde, niemals satt,

Häuft Wunsch auf Wunsch; ihr heftiges Verlangen

Klagt, daß sie neuen Mangel hat.
[161]

Wie Regen und wie heitre Sonnenblicke,

So wünschen wir Glückseligkeit;

Der Sterbliche fühlt bey erstrebtem Glücke

Nicht Ruhe, nicht Zufriedenheit.


Nur ich, zufriedne Sterbliche, begehre

Nichts mehr, und wenn ich das Geschick

Mit einer neuen Forderung beschwere

So wünsch ich meinen Freund zurück!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 159-162.
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