An Palemon,

der Spaziergang auf dem Fürstenwall

[213] (Zu Magdeburg im kalten April 1762.)


Zu nackend, Freund! muß noch die Linde bleiben

Die ganz ihr grünes Kleid verlohr.

Rauh ist der Frühlings-Tag. Die kleinen Wurzeln treiben

Nicht junges Graß hervor.


Doch lieblich ist der Lustgang an der Elbe

Auf ihrer Oberfläche schwimmt

Die Sonne noch einmal, der an dem Luft-Gewölbe

Gott ihren Lauf bestimmt.


Ihr feyren bey dem ersten holden Blicke

Ein Fest, die Knaben mit dem Ball

Die nicht besorgt um Brod, und ihr zukünftig Glücke

Laut jauchzen auf dem Wall.
[214]

Dort stützt ein Mann, die lahmgebliebne Rechte

Und krumme Schenkel, an ein Holz.

Er schleicht und denkt sich noch das schreckliche Gefechte

Und ist auf Narben stolz.


O Freund! ein Weib trägt voller Eymer Lasten;

Sie steigt am Ufer auf, und keucht.

Ich leb im Ueberfluß, und ganze Tage fasten

Muß sie; und ach! vielleicht


Fiel in der Schlacht ihr bester Freund, und Kinder

Ein traurig Denkmahl! ließ er hier!

Nie macht die stille Nacht den Gram des Herzens minder

Er schlummert nicht in ihr!


Auch ich gieng einst in abgetragner Hülle,

Und Kinder stammelten um Brod.

Mit Seufzern unterbrach ich nächtlich meine Stille

Und träumte Morgen-Noth.
[215]

Jetzt denk ich oft zehn Frühlinge zurücke,

Und staune was mir wiederfährt

Mit vollem Herzen an; und eine Thrän im Blicke

Frägt; Himmel bin ichs werth?

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 213-216.
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