Eine kranke Braut

an ihren Geliebten

[236] O du! an den ich täglich eine Menge

Klagvoller Seufzer abgesandt,

Miß mein Gefühl nicht nach des Briefes Länge,

Ihn schrieb die zitternde Hand.


Des Fiebers Gluth, empor ins Haupt gestiegen,

Fraß den Gedanken, ehe er sich

Entwickelte, da wo Gedanken liegen

In der Empfindung für dich!


So sengt in heissen unbewölkten Tagen

Die Mittags-Sonne Blumen ab,

Die halb verhüllt noch in der Knospe lagen.

So fliehen Blätter herab
[237]

Vom Lindenbaum, wenn vor den Ungewittern,

Der losgelaßne Sturm ihn schwenkt,

Und einen Gott mit unterdrücktem Zittern

Der Sünder fühlet und denkt.


O du Geliebter! ahnde nicht mein Schweigen;

Gezwungne Sünden räche nicht!

Gieb mir, gieb mir oft deiner Liebe Zeugen.

Das harte Siegel zerbricht


Von meinem Kuß, der heftig aufgedrücket

Von Lippen wird, die geizig dich

Erwarten, Freund! wie werd ich dann entzücket!

An deine heften sie sich;


Und rednerisch wird unter tausend Küssen

Mein Herz, mit Wollust vollgetränkt,

Dir süsse Nahmen herzustammeln wissen,

Die Sapho selber nicht denkt.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 236-238.
Lizenz:
Kategorien: