An Phillis

[90] Eine Einladung zu den Ruinen bey Potsdam.


1765.


Durch deines Lagers Ueberhang

Ist nicht des Tages Blick gedrungen,

O Phillis! als mich zum Gesang

Mein klopfend Herz schon aufgezwungen.


Ich nahm die Leyer, dachte dich,

Und frug, ob meine Muse wüßte,

Daß Phillis lieblich träumend sich

Mit mir und ihrem Schäfer küßte?


Komm, meine Freundin! küsse mich,

Und laß mich deine Rechte führen

Zum Hügel, den so schauerlich

Die Zeichen der Vernichtung zieren.
[90]

Ein halb zerstöhrter Tempel ragt

Hervor, als hätte man vor Zeiten

Hier den Apoll um Rath gefragt

Beim Waffengriff, zu Krieg und Streiten.


Uns dünkt, als ob die Pythia

Noch in den dunklen Thälern säße,

Und murmelte was jezt geschah,

Und das Zukünftige vergäße.


Komm, meine Phillis! wenn der Tag

So heiter bleibt, und fühle Trauer,

Wie damals, da Dein Daphnis lag

Vor Dir im letzten Todesschauer.


Nein, nicht so grausam fühle sie,

Dich müsse zärtlich nur durchdringen

Bei Birken die Melancholie,

Und dich zu sanften Thränen zwingen.
[91]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 90-92.
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