Ermahnung an einen jungen Freund

[88] 1766.


Jüngling, blaß sind Deine Wangen,

Leichenblaß,

Ach, Du bist voll Tugendhaß

Oft der Wollust nachgegangen.


Kehre wieder, kehre wieder,

Wirf in Dir

Das ernährte wilde Thier

Der verdorbnen Neigung nieder.


Mäßigkeit und reine Sitten

Führen schon

In sich selber ihren Lohn,

Wenn Du keinen Arzt darfst bitten.
[88]

Eine fromm genoßne Jugend,

Fröhlichkeit

Die dem Tritte Rosen streut,

Mit Bewilligung der Tugend:


Ein Gewissen ohne Wunden,

Und ein Blick,

Ohne Schaam und Reu zurück,

Auf des Lebens Mittagsstunden;


O das ist ein Glück auf Erden,

Und wird hier,

Wenn Du Greishaar trägest, Dir

Schon zum Freudenhimmel werden!
[89]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 88-90.
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