Bei dem jubelvollen Empfange der Königin

[9] Den 16. Februar 1763.


Die ihr euch nie den Nordwind laßt entkleiden,

Ihr Tannenwipfel, bücket euch;

Empfangt die Königin, und seht des Volkes Freuden,

Und rauscht mit ihm zugleich!


Unüberzählbar wälzet sich die Menge

Dicht aneinander durch das Thor.

Von zehen tausend Zungen steigt, wie Lobgesänge,

Ein frommer Zank empor.


Welch ein Getümmel! Aller Blicke wollen

Auf einmal in Ihr Angesicht,

Jetzt kommt Sie; sehet da den Strom von Thränen rollen,

Der mehr als Worte spricht!
[9]

Vermischte Stimmen rufen unaufhörlich;

»Der Friede schwebet über Ihr;

Der Sieger kommt; Sein Thron, Sein Land bleibt unzerstöhrlich;

Glückselig bleiben wir!« –


Und ich vergesse meines Saitenspieles

Gewohnte Töne; mich entreißt

Den Musen, dem Apoll, der Aufruhr des Gefühles.

Ich werde lauter Geist,


Und schwimme durch die Wellen des Gedränges,

Zum Purpursessel, der Sie trägt:

Sie lächelt mir, und horcht, wie stark mein viel zu enges

Durchdrungnes Herze schlägt.
[10]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 9-11.
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