Kleont und Julie

[65] Den 19 Nov. 1771


Kleontes hieng allein den Musen an,

Ihn reizten seines Landes Töchter nicht;

Schön, wie der Blumengöttinn Lieblingskind,

Erschluf er in platonischer Entzückung sich

Oft träumerisch ein reizend Ideal,

Das nirgend war, als nur in seiner Seele.

Vergebens blickt er Jahre lang umher,

Und endlich fand sein Auge zum Erstaunen

Auf jener Flur, wo meine Thestylis

Gebohren ward, ein Mädchen, dessen Miene

Dem Lächeln seiner Selbstgeschaffnen glich;

Die durch ihr himmlischschönes, edles Herz

So liebenswerth, als Medons Klelie,

Und durch die Kunst des goldnen Saitenspiels,[66]

Das sie mit Meistergriffen zaubrisch rührt,

Ihm lieb, ihm lieb ist, wie Melpomene.

Mit dieser geht der glückliche Kleontes

Heut in den Tempel Hymens an der Hand

Des Liebesgottes, und der Göttin Freunde,

Und alle Musen, die mit ihm vertraut

Seit seinem letzten Knabenspiele waren,

Weißagen sich von ihm und Julien

Im nächsten Jahr' den ersten schönen Knaben,

Den sie zum deutschen Sophokles erziehn.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Neue Gedichte, Mietau und Leipzig 1772, S. 65-67.
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