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[8] Fahre herauf, du kristallener Wagen,

Klingender Morgen, so frisch und so klar!

Seidene Wimpel, vom Ostwind getragen,

Flattre, du rosige Wölkleinschar!


Siehe die Meere, sie schaukeln und branden,

Fröhlich die Brise vom Morgenland weht,

Sühnend erfunkelt der Tau auf den Landen,

Weihbrunn zum heiligen Sonnengebet.


Tausendfach wollen die Blumen entriegeln

Aus ihrer Brust den gefangenen Gott;

Doch die vergoldeten Kreuze bespiegeln

Sich auf den Domen mit gleißendem Spott!


Singen nicht Lerchen dort hoch in den Lüften,

Schwenkend und ziehend im freudigen Zug?

Nein, aber aufwärtsgeschwungen aus Grüften,

Sonnt sich ein kreischender Rabenflug!


Springt nicht ein Fischlein aus silberner Welle,

Das sich am lieblichen Lichte erfreut?

Ja, 's ist ein Hecht, der mit tückischer Schnelle

Seinen täglichen Raub nur erneut!


Fahre hinüber auf klingenden Speichen,

Glänzender Morgen! noch ist es nicht Zeit;

Rosige Wimpel, und ihr mögt erbleichen!

Weh mir! schon weht ihr so blaß und so weit!


Fahre! – es träumet ein Riese auf Erden,

Dem es gar ahnend im Ohre erklingt.[9]

Auf springt er einst, in den Zügel den Pferden,

Die zum Stehn der Gewaltige zwingt.


Heißt dann die Freiheit dem Wagen entsteigen

Mit ihrer ganzen herrlichen Fracht.

Mag sich die Sonne nur heben und neigen:

Schön ist der Tag dann und glücklich die Nacht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 8-10.
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