[Dein Lied ist rührend, stiller Sänger!]

[159] Dein Lied ist rührend, stiller Sänger!

Doch zürne dem Genossen nicht,

Wird ihm darob das Herz nicht bänger,

Das, dir erwidernd, also spricht:


Die Poesie ist angeboren,

Und sie erkennt kein Dort und Hier;

Ja, ging' die Seele mir verloren,

Sie führ zur Hölle selbst mit mir.


Inzwischen sieht's auf dieser Erde

Noch lange nicht so graulich aus;

Und manchmal ist mir, Gottes: Werde!

Ertön' erst recht dem »Dichterhaus«.


Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen

Und spannt Eliaswagen an –[159]

Willst träumend du im Grase singen,

Wer hindert dich, Poet, daran?


Ich grüße dich im Schäferkleide

Und lächle – doch mein Feuerdrach'

Trägt mich vorbei, die dunkle Heide

Und deine Geister schaun uns nach!


Was deine alten Pergamente

Von tollem Zauber kund dir tun,

Das seh ich durch die Elemente

In Geistes Dienst verwirklicht nun.


Ich seh sie keuchend sprühn und glühen,

Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,

Indes das Menschenkind zu blühen

Und singen wieder Muße hat!


Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren,

Ein Luftschiff voller Griechenwein

Durchs Morgenrot käm hergefahren –

Wer möchte da nicht Fährmann sein?


Dann bög ich mich, ein sel'ger Zecher,

Wohl über Bord, von Kränzen schwer,

Und gösse langsam meinen Becher

Hinab ins still verlaßne Meer!


Ein bißchen Hunger wohl noch nähret

Vorher die üpp'ge Phantasie;

Doch hat man uns nicht längst gelehret,

Der Hunger auch sei Poesie?

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 159-160.
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