Erster Schnee

[59] Wie nun alles stirbt und endet

Und das letzte Lindenblatt

Müd sich an die Erde wendet

In die warme Ruhestatt,

So auch unser Tun und Lassen,

Was uns zügellos erregt,

Unser Lieben, unser Hassen

Sei zum welken Laub gelegt.
[59]

Reiner weißer Schnee, o schneie,

Decke beide Gräber zu,

Daß die Seele uns gedeihe

Still und kühl in Wintersruh!

Bald kommt jene Frühlingswende,

Die allein die Liebe weckt,

Wo der Haß umsonst die Hände

Dräuend aus dem Grabe streckt.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 59-60.
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