Der Nachtschwärmer

[68] Von heißer Lebenslust entglüht,

Hab ich das Sommerland durchstreift,

Darüber ist der Tag verblüht

Und zu der schönsten Nacht gereift.

Ich steige auf des Berges Rücken

Zur Kanzel von Granit empor

Und beuge mich mit trunknen Blicken

In die entschlafne Landschaft vor.
[68]

Am andern Berge drüben steht

Im Sternenschein der Liebe Haus,

Aus seinem offnen Fenster weht

Ein Vorhang in die Nacht hinaus;

Das ist fürwahr ein luftig Gitter,

Das mir das Fräulein dort verschließt,

Nur schade, daß mir armem Ritter

Der tiefe Strom dazwischen fließt!


So will ich ihr ein Ständchen bringen,

Das weithin durch die Lüfte schallt,

Und spiele du zu meinem Singen,

O Geist der Nacht, auf Tal und Wald!

Den Wind laß mit den Tannen kosen,

Die wie gespannte Saiten stehn,

Und mit der Wellen fernem Tosen

Der Nachtigallen Chor verwehn!


Im Osten zieht ein Wetter hin,

Das stellen wir als Helfer an:

Wie leuchtend schwingt sein Tamburin

Am Horizonte der Titan!

Die Mühlen sind die Zitherschläger

Beim Wassersturz im Felsengrund;

Im Wagen fährt mein Fackelträger

Hoch vor mir her am Himmelsrund!


Nun will ich singen überlaut

Vor allem Land, das grünt und blüht,

Es ist kein Turm so hoch gebaut,

Darüberhin mein Sang nicht zieht!

So eine kühne Brücke schlagend,

Such ich zu ihrem Ohr den Weg:

Betritt im Traum das Seelchen zagend

Des wilden Lärmers schwanken Steg?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 68-69.
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