Himmelsleiter

[74] Müde saß ich in der Dämmrung

Von des Tages Lärm und Staube,

Eingelullt vom Abendsäuseln,

Schlummernd in der Rebenlaube;

Da begann von Licht und Blumen

Gar ein seltsam schimmernd Weben

Und ein Spielen vor den Augen

Gleich dem Ranken goldner Reben.


Rote Rosen, weiße Rosen,

Primeln, Tulpen und Narzissen,

Sterne, Kelche hundertfarbig

Sah ich durcheinander sprießen.

Purpur, Gold, Azur und Silber

Flimmerten in Wechseltönen,

Lila, Rosa, zartes Laubgrün

Mußten Glanz mit Glanz versöhnen.
[74]

Oh, das war ein schöner Reigen,

Wie die Farben all ihn tanzten,

Wie die Blütenstern' und -glocken

Kreisend sich in Beete pflanzten!

Aber in den Wundergarten

Senkte eine Jakobsleiter

Von zwei Strahlen sanft sich nieder,

Aus zwei Sternen bläulich heiter!


Kleine blonde Liebesengel

Schwebten daran auf und nieder,

Stiegen in den blauen Himmel,

Kehrten in mein Herze wieder,

Weckten andre Engelknaben,

Welche träumend drinnen schliefen

Und darauf, mit jenen spielend,

Kosend durch die Blumen liefen.


Und die aus dem Himmel kamen,

Wollten meines Herzens Kinder

Ringend mit sich aufwärts ziehen;

Aber diese auch nicht minder

Hielten stand und kämpften wacker,

Bis sie jene bald umschlangen,

Hielten sie in meines Herzens

Beiden Kämmerlein gefangen.


Oben auf der Himmelsleiter

Eine klare Seele schwebte,

Die halb scheltend, halb mit Lächeln

Sie zurückzulocken strebte;

Doch es schien mir im Gefängnis

Ihnen leidlich zu gefallen,

Denn ich sah, der Herrin trotzend,

Bunt sie durcheinanderwallen.
[75]

Und sie mußte sich bequemen,

Endlich selbst herabzusteigen,

Sah sich plötzlich bang umschlossen

Mitten in dem frohen Reigen.

Doch für all den Kinderjubel

Ward das Herz zu eng und nieder:

Klingend sprangen auf die Pforten,

Sprangen auf die Augenlider.


Sieh! da standest du, auf meine

Schläferaugen schweigsam schauend,

Vorgeneigt und unbefangen,

Auf den festen Schlaf vertrauend;

Wurdest rot und flohst vorüber,

Fast wie Schwalbenflügel summend

Und vergeblich dein Geheimnis

In der Dämmerung vermummend!


Fliehe nur, verratne Seele,

Trostlos durch des Gartens Blüten!

Suche stärkre Zauberdrachen,

Deines Busens Schatz zu hüten!

Töricht Kind! nun magst du immer

Dreifach deinen Mund verschließen,

Unerbittlich aus den Augen

Seh ich Liebesengel grüßen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 74-76.
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