Die Zeit geht nicht

[163] Die Zeit geht nicht, sie stehet still,

Wir ziehen durch sie hin;

Sie ist ein Karawanserei,

Wir sind die Pilger drin.
[163]

Ein Etwas, form- und farbenlos,

Das nur Gestalt gewinnt,

Wo ihr drin auf und nieder taucht,

Bis wieder ihr zerrinnt.


Es blitzt ein Tropfen Morgentau

Im Strahl des Sonnenlichts;

Ein Tag kann eine Perle sein

Und ein Jahrhundert nichts.


Es ist ein weißes Pergament

Die Zeit, und jeder schreibt

Mit seinem roten Blut darauf,

Bis ihn der Strom vertreibt.


An dich, du wunderbare Welt,

Du Schönheit ohne End,

Auch ich schreib meinen Liebesbrief

Auf dieses Pergament.


Froh bin ich, daß ich aufgeblüht

In deinem runden Kranz;

Zum Dank trüb ich die Quelle nicht

Und lobe deinen Glanz.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 163-164.
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