Wir wähnten lange recht zu leben

[165] Wir wähnten lange recht zu leben,

Doch fingen wir es töricht an;

Die Tage ließen wir entschweben

Und dachten nicht ans End der Bahn!


Nun haben wir das Blatt gewendet

Und frisch dem Tod ins Aug geschaut;

Kein ungewisses Ziel mehr blendet,

Doch grüner scheint uns Busch und Kraut!


Und wärmer ward's in unsern Herzen,

Es zeugt's der froh gewordne Mund;

Doch unsern Liedern, unsern Scherzen

Liegt auch des Scheidens Ernst zugrund!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 165.
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