Landwein

[282] Am Hügel wohnt der alte Bauersmann,

Der hat sein Gut von neuer Hand gegründet,

Daß all sein Land im weitgezognen Bann

Des Eigners feste Willenskraft verkündet;

Was harter Fleiß der Erd entlocken kann,

Hat er zu immergrüner Pracht entzündet;

Und in der Mitte steht sein stattlich Haus,

Die Fenster schimmern in das Land hinaus.


Das ist das ganze Jahr ein wechselnd Blühn,

Geteilt in Streifen und in allen Farben

Dehnt es sich aus, vom hellen Saatengrün

Bis zum gediegnen Gold der schweren Garben.

Des Mohnes traumerfüllte Kelche glühn,

Wenn kaum des Flachses blaue Blüten starben;

Vereinigt leuchtet aller Farben Flor

Im Blumengarten vor des Hauses Tor.


Vom fernen Berge aus dem eignen Wald

Hat er zum Hof den Brunnen hergeleitet,

Und von des Forstes felsiger Gestalt

Aus eignem Stein des Hauses Grund gebreitet.

Man sieht, wie neben mächt'ger Eiche bald,

Bald neben der gefällten Tann er schreitet,

Die blanke Axt fest in den Stamm gehauen,

Dem langen Zug den richt'gen Weg zu schauen.
[282]

Vom Morgengrauen bis zum Wehn der Nacht

Kann man ihn sehn durch Flur und Felder streifen,

So weit noch seines Halmes Blüte lacht,

Treu seine Bienen Pflug und Stier umschweifen;

Selbst von der Lüfte sonnig heitrer Pracht

Die Tauben seines Hofs Besitz ergreifen.

Und auch die Lerche, Wachtel, Eul und Rabe

Sind heimatliche Kinder seiner Habe.


Jedoch sein Herzfleck ist ein jäher Rain,

Der sich erhebt aus weiten Ackergründen,

Da wo am vollsten ruht der Sonne Schein

Und abgewandt des Nordens rauhen Winden;

Da zieht der Landmann seinen Labewein,

Da ist er manchen langen Tag zu finden,

Wie Arbeit er und Müh mit Lust verschwendet,

Der Rebe wählrisch Schoß zum Lichte wendet.


Doch zieht er nicht die Traube zum Erwerb,

Mit seinen Söhnen trinkt er selbst den Saft,

Der nicht wie Honig süß, doch frisch und herb

Der Männer Blut erhält mit tücht'ger Kraft;

Auch Brot und Leib und Leben sind ja derb

Dem Volke, das in brauner Scholle schafft;

Nur wenn ein heißes Weinjahr ist auf Erden,

Kann auch sein Wein ein rechter Festwein werden.


Wie oftmals, wenn der kühle Herbst gekehrt,

Gelungen war des Jahrs mühsel'ger Plan,

Die Speicher hoch mit reicher Frucht beschwert,

Der neue Wein in seine Haft getan,

Hat er das erste Glas davon geleert –

Nie setzt' er eines ruhig wohler an!

So saß der Mann inmitten seiner Sippe

Und trank den jungen Wein mit froher Lippe.
[283]

Wenn dieser so im Glas zu gären schien,

Im Innersten nach Klarheit heiß zu ringen,

Dann sprach der Mann wie träumend vor sich hin,

Als hört' er wo ein fernes Lied erklingen:

»Gott hat's gegeben, und wir preisen ihn!

Wir loben ihn, wenn wir es wieder bringen!

Denn wie er's geben kann, mag er es nehmen,

Und unser ist ein mutiges Bequemen!


Wohl hört man ihn durch Tann und Schlüchte fahren,

Wer aber weiß, von wannen kommt der Wind?

So drängen sich der Menschheit schwere Scharen,

Die selber sich ein tief Geheimnis sind,

Das aber endlich sich soll offenbaren

Den Lebensklugen, die nicht taub und blind.

Indes zur Übung, Stärkung unserm Streben

Ward dieser harte Ackergrund gegeben.


Und was wir heute sammeln und gestalten,

Das wird der Morgen schonungslos zerstreuen;

Doch wollt ihr einen süßen Kern erhalten,

Dürft ihr euch nicht zu sehr der Schalen freuen!

Wenn sich der Geist der Geister will entfalten,

Wird unablässig er das Wort erneuen.

Wir aber müssen bei der Arbeit lauschen,

Wohin die heil'gen Ströme wollen rauschen!«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 282-284.
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