Aroleid

[394] Im Wallis liegt ein stiller Ort,

Geheißen Aroleid;

Es seufzt ein Gram im Namen fort

Seit lang entschwundner Zeit.


Ein Berghirt hing in Todsgefahr

Am steilsten Firnenrand,

Ihn stieß hinunter dort der Aar,

Wo keiner mehr ihn fand.


Auf grüner Matte saß sein Weib;

Das Kind ins Gras gelegt,

Saß sie und schaut' mit starrem Leib

Hinüber, unbewegt,


Hinüber, wo im Dämmerblau

Der Berg zur Tiefe schwand

Und mit des Gipfels Silberau

So still am Himmel stand.


Voll bittrer Sehnsucht sprang sie auf

Und ging im Mattengrün

Mit schwankem Schritt und irrem Lauf

Und heißem Augenglühn.


Da schreit ein Kind, ein Flügel saust

Wohl über ihrem Haupt –

Mit ihrem Kind zur Höhe braust

Der Aar, der es geraubt!


Noch sieht das Wickelband sie wehn

In der kristallnen Luft,[395]

Dann sieht sie's wie ein Pünktlein stehn

Im ferneblauen Duft,


Dann nichts mehr, nie, solang sie lebt! –

Sie nahm kein Trauerkleid;

Doch von dem Leid, das dort noch webt,

Der Ort heißt Aroleid.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 394-396.
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