Die kleine Passion

[361] Der sonnige Duft, Septemberluft,

Sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch,

Das suchte sich die Ruhegruft

Und fern vom Wald sein Leichentuch.

Vier Flügelein von Seiden fein

Trug's auf dem Rücken zart,

Drin man in Regenbogenschein

Spielendes Licht gewahrt'.

Hellgrün das schlanke Leibchen war,

Hellgrün der Füßchen dreifach Paar,

Und auf dem Köpfchen wundersam

Saß ein Federbüschchen stramm;

Die Äuglein wie ein goldnes Erz

Glänzten mir in das tiefste Herz.

Dies zierliche und manierliche Wesen

Hatt sich zu Gruft und Leichentuch

Das glänzende Papier erlesen,

Darin ich las, ein dichterliches Buch.

So ließ den Band ich aufgeschlagen

Und sah erstaunt dem Sterben zu,

Wie langsam, langsam ohne Klagen

Das Tierlein kam zu seiner Ruh.

Drei Tage ging es müd und matt

Umher auf dem Papiere;

Die Flügelein von Seide fein,

Sie glänzten alle viere.

Am vierten Tage stand es still

Gerade auf dem Wörtlein »will!«

Gar tapfer stand's auf selbem Raum,

Hob je ein Füßchen wie im Traum;

Am fünften Tage legt' es sich,

Doch noch am sechsten regt' es sich;[362]

Am siebten endlich siegt' der Tod,

Da war zu Ende seine Not.

Nun ruht im Buch sein leicht Gebein.

Mög uns sein Frieden eigen sein!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 361-363.
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