Krötensage

[363] Des Berges alte Wangen sind

Von Maiensonne beschienen;

Sie lächeln unter Quellenglanz,

Die Schilfe, die Farren ergrünen.


Die Kröte springt aus dem Kieselstein,

Ein Hirt hat ihn zerschlagen;

Sie schaut verdrossen die Scherben an,

Und sie beginnt zu sagen:


»Viel tausend Jahre bin ich alt

Samt diesem Futterale!

Es schob vom hohen Felsgebirg

Allmählich mit mir zu Tale.


Doch manchmal in der Wasser Sturz

Sind wir gewaltig gesprungen;

Dann hat's um meine dunkle Klausur

Gesungen und geklungen.


Und wie mir ist – ich weiß es nicht,

Noch was ich getrieben indessen;

Ich hab im mindesten nichts gelernt

Und hatte nicht viel zu vergessen.
[363]

Ein warmer Regen, ein grünes Kraut

Nur konnten mir behagen;

Sie liegen mir fort und fort im Sinn

Aus fernen Jugendtagen.


So hab ich ein langweilig Stück

Unsterblichkeit erworben;

Hätt ich getrunken lebendige Luft,

Längst wär ich vernünftig gestorben.«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 363-364.
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