Wanderlied

[302] Glück auf! nun will ich wandern

Von früh bis abends spät,

So weit auf dieser Erde

Die Sonne mit mir geht!


Ich führe nur Stab und Becher,

Mein leichtes Saitengetön;

Ich wundre mich über die Maßen,

Wie's überall so schön!


Oft ist die Ebene schöner

Als meine Berge, so hoch!

Und wo kein blauer Himmel,

Gibt's Purpurwolken doch.
[302]

Und wo kein schmachtender Lotos,

Wächst blühendes Heidekraut;

Wo keine gotischen Dome,

Sind jonische Tempel gebaut.


Und bin ich des Griechischen müde,

So lockt mich die Moschee:

Ich kleid in maurische Schnörkel

Mein abendländisches Weh.


Das Heimweh nach der Wirtin!

Sie find ich in keinem Haus,

Und nach der einzig einen

Jag ich Welt ein und aus.


Hei da, du wilder Jäger,

Du Bauer dort im Kraut,

Hast du, verwegner Schiffer,

Die Wirtin nirgends geschaut?


Frau Freiheit heißt die Schönste!

Sie ist von keuschem Blut;

Sie hält sich Wanderschuhe

Und einen Reisehut.


Wo kocht sie jetzt die Rüben?

Wo mahlt sie jetzt ihr Korn?

Wo striegelt sie die Knechte?

Wo reutet sie den Dorn?


Sie ist eine Melusine:

Wer sie hat und nach ihr fragt,

Dem wandert sie aus dem Hause

Frühmorgens, eh es tagt!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 302-303.
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