Schlafwandel am Tage

[291] Im afrikanischen Felsental

Marschiert ein Bataillon,

Sich selber fremd, eine braune Schar

Der Fremdenlegion;

Lang ist ihr wildes Lied verhallt

In Sprachen mancherlei,

Stumm glüht der römische Schutt am Weg,

Schlafend ziehn sie vorbei.


Unter der Trommel vorgebeugt

Der schlafende Tambour geht,

Es nickt der Kommandant zu Roß,

Von webender Glut umweht;[291]

Es schläft die Truppe, Haupt für Haupt

Unter der Sonne gesenkt,

Von der Gewohnheit Eisenfaust

In Schritt und Tritt gelenkt.


Und was sonst in der dunklen Nacht

Das enge Zelt nur sieht,

Wird unterm offnen Himmelblau

Vom Wüstenlicht durchglüht.

Es spielt das schmerzliche Mienenspiel

Unglücklichen Manns, der träumt,

Von Gram und Leid und Bitterkeit

Ist jeglicher Mund umsäumt.


Es zuckt die Lippe, es zuckt das Aug,

Auf dürre Wangen quillt

Die unbemeisterte Träne hin,

Vom Sonnenbrand gestillt.

Sie schaun ein reizend Spiegelbild

Vom kühlen Heimatstrand,

Das grüne Kleefeld, rot beblümt,

Die Mutter, die einst den Sohn gerühmt,

Verlornes Vaterland!


Ein Schuß – da flattert's weiß heran,

Und schon steht das Quarré

Schlagfertig und munter, und keiner sah

Des andern Reu und Weh;

Nur zorniger ist jeder Mann

Und ihm willkommen der Streit;

Doch wie er kam, zerstiebt der Feind,

Wie Traum und Reu so weit!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 291-292.
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