Der alte Bettler

[245] Nun legst du, alte, knorrenvolle Föhre!

Den allerletzten Jahresring dir an,

Da ich mit seiner Axt rumoren höre

Im Walde schon den grauen Zimmermann.

Er wird sowenig mit dir federlesen,

Als jemand über mein Verschwinden klagt –

Ein alter Lump ist wohl das einz'ge Wesen,

Dem man des Alters Ehrenzoll versagt!


Sei's immerhin! ich liebe drum nicht minder

Dies schöne Land, mein gutes Vaterland,[245]

Und segne seine frohen, stolzen Kinder

Mit der verworfnen toten Bettlerhand!

Ich segne euch, o Strom, Gebirg und Auen,

Die ihr im Lenzgold heiter vor mir schwimmt!

Ein Reichtum ist dies selig klare Schauen,

Den niemand auch dem ärmsten Manne nimmt.


Als meine Brüder einst vor vierzig Jahren

Das alte morsche Vaterhaus verkauft,

Um nach der fernen Neuen Welt zu fahren,

Wo man sich mit der alten Erde rauft,

Da bin ich ganz allein zurückgeblieben,

Bald war es um mein kleines Erb getan;

Weiß nicht, wie weit sie drüben es getrieben,

Ich aber fing darauf zu betteln an.


Denn weder Not noch Mühsal konnten scheiden

Mich aus den Marken meines Vaterlands –

Wer will mich zwingen, seinen Schoß zu meiden,

Zu missen seiner Ströme blauen Glanz?

Hier will ich wandeln, wo ich bin geboren,

Und sei's auch in zerrißnen Bettlerschuhn!

Ging drob die Bürgerehre mir verloren:

Ich will und muß bei meinen Vätern ruhn!


Dich sollt ich meiden, trautes Netz der Wege,

Das mein Volk auf des Landes Boden spann?

Und dich, Gebirg, wo ich des Abgrunds Stege

Auch mit verbundnem Aug beschreiten kann?

Wo ich der Quellen tiefen Ursprung kenne

Und jeden Stamm im dunklen Forst gezählt

Und jede Trift bei ihrem Namen nenne –

Den Boden, wo mir nie ein Tritt gefehlt?
[246]

O meines Vaterlandes gute Erde,

Wie kriech ich gern in deinen warmen Schoß!

Mir ahnet schon, wie süß ich ruhen werde

In dir, von allem Druck und Irrsal los!

Wie will ich meine müden Beine strecken,

Wegwerfend meiner Armut dürren Stab!

Wie selig mich von West nach Osten recken

Und unverwüstlich ruhn in meinem Grab!


Doch spinnt sich weiter meiner Seele Leben,

So möge sie, im grauen Schattenkleid,

Vergnügt und still dies gute Volk umschweben,

Noch immer treu, in Freude wie in Leid!

Als leichte Mahnung neckend umzugehen

In seines Glückes hellem Sonnenschein:

Möcht meine Seligkeit darin bestehen,

Einst seines letzten Bettlers Geist zu sein!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 245-247.
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