Gewitter im Mai

[235] In Blüten schwamm mein Heimatland,

Es wogte weiß in schwüler Ruh;

Der dunkle, feuchte Himmel band

Mir schwer die feuchten Augen zu.


Voll Gram und Reu hatt ich den Mai

Gegrüßt und seinen Blumenflor;

Nun zog er mir im Schlaf vorbei,

Und träumend nascht ich armer Tor!


Da war ein Donnerschlag geschehn,

Ein einziger; den Berg entlang

Hört ich Erwachender vergehn

Erschrocken seinen letzten Klang:


»Steh auf! steh auf! entraffe dich

Der trägen, tatenlosen Reu!«

Durch Tal und Herz ein Schauer strich,

Mein Leben grünte frisch und neu.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 235.
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