Wien

[255] Frühling 1848


Stadt der Freude, Stadt der Töne,

Morgenfrohes, stolzes Wien!

Dessen frühlingsheitre Söhne

Nun der Freiheit Rosen ziehn:

Ja, wir haben uns versündigt,

Als wir grollten deiner Lust,

Deinem Jauchzen, das verkündigt

Eine starke, tiefe Brust!


Auf den zauberischen Wogen

Deutscher Tänze schwebtest du,

Wetter kamen schwül gezogen,

Schelmisch logst du üppige Ruh;

Eisgrau saßen tote Wächter

Vor dem klangerfüllten Haus:

Sieh, da warfst du edle Fechter

Singend in das Frührot aus!


Mit den Flöten, mit den Geigen,

Mit den Zimbeln hell voran

Führe vorwärts deinen Reigen

Auf der morgenroten Bahn!

Einmal noch durch deutsche Lande

Führ ein deutsches Kaiserbild,

Reich zu schaun im Goldgewande,

Und wir grüßen fromm und mild!


Dieser Traum wird auch verwehen

Und am alten Sternenzelt

Endlich unter die Sterne gehen

Zu der toten Götterwelt;[256]

Und wo flimmernd Schwan und Leier

Und das Bild des Kreuzes sprühn,

Wird dereinst in schönem Feuer

Caroli Magni Krone glühn!


Aber dann in tausend Wiegen,

Hier in Gold und dort in Holz,

Wird der junge Kaiser liegen,

Freier Mütter Ruhm und Stolz,

Wird als Hirt in Blumen weilen,

Im Gebirg als Jäger gehn,

Auf des Meerschiffs schwanken Seilen

Als ein braver Seemann stehn!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 255-257.
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