Erster Brief.

An den Herrn von Hohenau in Göttingen.

... den 28sten Merz 1770.


Des Menschen Wille, mein lieber Hohenau! ist ein wandelbares Ding. Unsre Handlungen hängen von so viel innern und äussern Umständen ab, daß man nie wagen sollte im Voraus zu sagen, was man den andern Tag thun will. Wenn auch der Tod keinen Querstrich durch die Rechnung macht; so leitet doch so oft das eigensinnige Schicksal unsre Schritte dahin, wohin wir anfangs gar nicht dachten, oder irgend eine unbezwingliche Leidenschaft läuft mit uns davon, und läßt den langweiligen Verstand da stehn und seine Anmerkungen[1] darüber machen. Merkt Euch das, Ihr, die Ihr mit pharisäischer Selbstzufriedenheit die Handlungen Eurer Brüder gegen die Eurigen in Schatten stellt, und, weil Ihr auf Krücken geht, den raschen Jüngling lästert, der gern tanzt, gern hüpft, und vielleicht zuweilen einen Sprung zuviel macht. Merkt Euch das, und laßt jeden seine Schritte selbst verantworten! –

Doch, in aller Welt! wie komme ich zu dieser Apostrophe? Ich habe Ihnen wahrlich etwas sehr einfaches zu sagen, worauf das alles nicht paßt. Keine Streiche des Schicksals, keine unbändige Leidenschaften haben mit Ihrem Knechte ihr Spiel gehabt. Nein! ich habe mich nur anders besonnen, will meinen Hofnungen einst Feldmarschall zu werden, worauf ich so fest gerechnet hatte, entsagen, und meinen Abschied nehmen. Mein Oncle, der ohne Kinder ist, und von dessen Güte ich einst vielleicht einen großen Zuwachs an zeitlichen Gütern zu erwarten habe, will[2] gern, daß ich den Rest seines Lebens bey ihm zubringen soll. Ich habe also um meine Entlassung aus den ... Diensten gebethen, und werde nicht eher als etwa gegen den 26sten April bey Ihnen in Göttingen vorsprechen, und dann meine Sachen vollkommen so einrichten, daß ich meinem guten Oheim künftighin beständig Gesellschaft leisten kann. Itzt reisen wir zusammen herum, und auf diesen kleinen Reisen würkt so mancher lustiger Gegenstand auf mein Zwergfell, daß ich wohl darum zehn Jahr länger leben werde. Mein Reisegefärther ist denn auch nicht einer von den alten verdrüßlichen Oncles, die alle jungen Leute zu Greisen umbilden, die jede Freude fliehen, die immer bessern und reformiren wollen, nein! er ist ein kluger, fröhlicher Mann, lacht gern, wo sichs thun läßt, und verdirbt keine Gesellschaft.

Wir reiseten, wie ich Ihnen neulich schrieb1, von Cöln ab, nach ..., und[3] sodann zur Seite wieder in's ...sche, nach ..., wo wir Geschäfte haben, und auch itzt sind. Als wir unterwegens des Mittags in ... an dem Wirthstische speiseten, saß neben uns ein Herr, der sehr wichtig aussah, und ausserordentlich viel von den Verhältnissen der europäischen Mächte gegen einander zu wissen schien. Nun ist Politik gar nicht mein Fach. Ich begreife nicht, wie jemand, der oft zu faul oder zu ohnmächtig ist, in dem kleinen Circul um ihn her würksam zum Guten zu seyn, der nicht einmal die Mängel und Gefahren des Staats kennt, in welchem er lebt, wie der, bey einer Flasche Wein, sich darum bekümmern kann, was die hohen Potentaten mit einander vornehmen. Ich mische mich durchaus in keine Händel, worinn ich nicht thätig seyn kann. Also machte mir unser Tischgesellschafter auch viel Langeweile. Unterdessen hatte mein Oncle eine Art Zuneigung zu ihm gefaßt, und schlug ihm vor, weil er denselben Weg wie wir reisete, aber kein eigenes Fuhrwerk[4] hatte, mit uns zu fahren, welches er gern annahm, und uns unterwegens ganz klar bewies, daß es nicht lange mehr Frieden zwischen Preussen und Oesterreich bleiben könnte. Wie der Mann geheissen hat, weiß ich nicht. Wir setzten ihn, als wir hier ankamen, vor einem von ihm bestimmten Häusgen ab, wo er ausstieg, und noch ehe wir weiter fuhren, war er vier Treppen hoch gelaufen, und schrie uns, aus einem kleinen Fensterchen neben dem Schornsteine, einen höflichen Dank heraus. Mein Oncle meinte, es müßte wohl ein Gelehrter, oder kein Gelehrter, sondern ein Rezensent seyn, weil er über alle Leute erhoben, aber doch so unbequem wohnte, und sich in Sachen mischte, wozu er keinen Beruf hätte. Gefragt hatten wir nun einmal nicht, und ich könnte auch um die ganze Welt mit jemand reisen, ohne nach seinem Namen zu fragen. Der Mensch allein intereßirt mich, seine äusseren Umstände bekümmern mich nur wenn ich ihm helfen kann, oder ihn einst wieder aufsuchen will.[5]

Neben dem Gasthofe, in welchem wir hier wohnen, war eine Marjonettenbude aufgeschlagen. Wir hatten den Tag nichts besseres zu thun, und giengen also hinein. Ich sehe solche Marjonettenspiele lieber als eine kaum mittelmäßige Schauspielergesellschaft. Dort weiß ich, wofür ich das Ding nehmen soll, hier steht mir alles am unrechten Platze. Unter jenen giebt es auch Genies, Virtuosi, bey diesen aber hält sich kein Mensch auf, dem die Natur irgend ein hervorstechendes Talent gegeben hat. Man sieht oft in solchen Puppenspielen die herrlichsten Copien, obgleich im Groben, al fresco gemalt, von Stücken aus der heutigen feinen Welt genommen, und wenn sie mehrentheils so ganz gewaltig verzeichnet sind; so werden sie dadurch nur um desto auffallender und interessanter. Wenig Menschen aber haben den wahren Sinn für das ächte Comische. Nicht immer macht die Feinheit, nicht immer die Sonderbarkeit des Gedankens, des Ausdrucks, oder der Situation das Object lächerlich. Der platteste[6] Ausdruck, der schaalste Witz kann durch den Platz, dahin er fällt, durch einen ganz eigenen Contrast, etwas so comisches hineinbringen, daß man, trotz seiner Ueberlegung, über die Plattitüde lachen muß.

Die Vorstellung dieses Tages war nicht so lustig anzusehen, sondern es war ein Trauerspiel, und hieß: »Der von seiner Maitresse, einer vornehmen und schönen, aber verbuhlten Gräfinn, mit Land und Leuten dem bösen Feinde in die Hände gelieferte Kaiser Jodocus.« Als wir hinein kamen, waren alle Bänke voll – man spielte zum erstenmal. Ein alter Officier vom Garnisonsregimente saß in der dritten Reihe, auf seinen Stock gelehnt, den er noch vor kurzem im Knopfe hängend getragen zu haben schien. Es war ihm viel daran gelegen, daß ihm in den fordersten Linien niemand die Aussicht nach dem Theater versperren sollte, und er both alles Ansehn auf, das ihm sein Stand in dieser hohen Versammlung[7] geben konnte, um seinen Horizont frey zu machen. Zwey und ein halber Bierfidler machten das Orchester aus, und die Melodie der schönen Arie: »Adieu du falsche Welt« war die Ouvertüre – Der Prinzipal kam heraus, putzte die Lichter, und fraß die Lichtschnuppe – Der Vorhang gieng auf – und, nicht wahr? Sie schenken mir die Zergliederung des Stücks. Nur im Allgemeinen sage ich Ihnen, daß es die Geschichte eines Kaisers war, den ein verruchtes Weib dahin brachte, die heiligsten Pflichten eines Fürsten, eines Gatten, eines Vaters und Freundes mit Füssen zu treten; daß die Ausschweifungen dieses Tyrannen ihn zuerst gegen alle die seligen Freuden, die ein guter Landesherr mit reichem Maaße erndten kann, unempfindlich; daß ihn der Müßiggang wollüstig, die Wollust grausam und verschwenderisch, die Verschwendung geizig und ungerecht, die Ungerechtigkeit mistrauisch, und das Mistrauen wieder ungerecht machte. Nachdem die Maitresse ihren Sclaven also in einem Circul von den allerunglücklichsten[8] Leidenschaften umhergetrieben, den ganzen Hof von ehrlichen Leuten gesäubert, mit ihren Creaturen besetzt, und zu einer Accademie der Bosheit, der Lüste und der Cabale gemacht hatte, woran aber immer Hanswurst keinen Theil nahm, weil er über alles lachte, und sich aus allem durch einen Spaß heraushalf; endigte sich das Stück damit, daß der böse Feind die ganze Gesellschaft holte, bis auf den Hanswurst nach, der auch den Satan durch Spott und Streiche überwältigte, woraus ich dann gelernt habe, daß man keine mächtigere Waffen gegen die Bosheit, als das Pritschholz hat – Und nun sagen Sie mir, ob die grobe Weisheit in diesem Stücke nicht mehr Nutzen stiften könnte, als die Schmeicheleyen, die oft in unsern schönen Lustspielen, Dramen, Prologen u.s.f. denen hohen Beschützern der Bühne an den Kopf geworfen werden?

Wir brachten die folgenden Tage mit Geschäften hin, und machten dann eine kleine[9] Spatzierfarth nach ... um zu Ende des Carnavals einer Mascarade beyzuwohnen, die vielleicht, an einem so kleinen Orte, und in allem Betrachte, die einzige in ihrer Art ist.

Um Mittag kamen wir an. Im Wirthshause war ein Jude, der in seinem Mantelsacke allerley Kleidungen von Glanzleinewand und allerley in grossen Städten schon ein Carnaval durch gebrauchte, verschabte Masken zu vermiethen mitgebracht hatte. Eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft, die auch hierher gekommen war, versah sich damit. Es waren Beamte, Officiere, Advocaten und Doctorn aus der Nachbarschaft mit ihren Weibern. Wir assen des Mittags mit ihnen im Gasthofe, und eher die Ballzeit heran kam, waren die Männer alle besoffen.

Doch erst etwas von der Mahlzeit! Ich gieng vor Tische in die Küche, und fand die Wirthinn beschäftigt einen schönen Putting[10] zusammen zu kneten. Sie hatte das Kind neben sich gesetzt – Es fand sich kein Tuch, worinn der Pudding gekocht werden konnte – wer aber Verstand hat hilft sich bald aus jeder Verlegenheit – des Kindes Windeltuch that diesen Dienst. Der Wirth kam zu uns in die Stube – Er suchte etwas auf dem bestaubten Himmel eines schmutzigen Bettes, und fand, was er suchte – nemlich eingetrocknete Citronenschaalen zum Ragout. Beym Herausgehen bemerkte ich, daß er einen kranken Finger hatte – Ich bedauerte diesen Unfall – Er meinte, es solle nun schon besser damit werden, nachdem er das Mittel gebraucht, das man ihm angerathen habe, den Finger eine Stunde lang in frischem Rindfleische zu halten. – Sie können denken, daß wir mit leerem Magen den Abend herankommen sahen.

Das Brauhaus, wo die Mascarade seyn sollte, lag jenseits des Wassers. Die Brücke war durch das Grundeis fortgerissen, also[11] mußten alle Masken eine Leiter hinunter steigen, sich übersetzen lassen, und an jenem Ufer wieder heraufklettern – Ein schöneres Schauspiel, als selbst die Farth der Schatten über den Stix gewähren kann! –

Die ganze Entreprise der Mascarade hatte ein ältliches Fräulein, in Gemeinschaft mit dem Apotheker des Orts übernommen. Man bezahlte bey dem Eingange einen halben Gulden, wogegen man noch Thee und Blutwurst frey bekam. Es waren mehrentheils Charactermasken da; Grenadiere mit papiernen Mützen, Läufer und Küchenjungen. Der Stadtschreiber tanzte vor, und sang den Musicanten immer erst die Melodie. Ich wollte doch auch tanzen, und forderte also eine schöne Schäferinn auf. Während des Herumtummelns (denn es gieng sehr lebhaft zu) behielt ich auf einmal den einen Hemdermel meiner Schönen in der Hand – es waren also falsche Vorermeln, ohne Hemd – Dies war nicht das einzige Unglück, denn der ganze[12] Tanz wurde bald durch einen Lerm unterbrochen. Zwey Masken ohrfeigten und prügelten sich mitten im Saale, weil der Abbee dem Juden ein Stück Wurst mit dem Ellbogen aus der Hand gestoßen hatte. Wir erwarteten nicht, daß der Streit geschlichtet, und ein neuer Tanz angefangen würde, zudem hatte man mir ein paarmal so jämmerlich auf meine Spatzierhölzer getreten, und mein Oncle konnte so viel Staub und Ausdünstungen nicht länger ertragen, also giengen wir fort. Vor der Thür fanden wir noch ein Pärchen, einen Türken mit einer Ursulinernonne, deren Lebensgeister von Brandtewein sehr erhitzt zu seyn schienen. Sie taumelten mit einander vor uns her – und wir eilten zurück in unser Wirthshaus, schliefen unruhig und unbequem, und reiseten den folgenden Morgen wieder hierher.

Nach einem noch achttägigen Aufenthalte reiseten wir von hier den 3ten dieses Monats auf einige Tage zu einen alten Freund meines[13] Oncles, den Herrn von ... in ..., und blieben beynahe drey Wochen in dasigen Gegenden. Er hat eine sehr gute und vernünftige Frau, die, ohne schön zu seyn, sehr viel Annehmlichkeit hat. Sie ist etwa dreyßig Jahr alt, groß, gut gewachsen und blond. Als sie sich verheyrathete, waren ihres Mannes Umstände nicht glänzend, und sie hatte gar kein Vermögen. Nach und nach verbesserte sich seine Lage durch Erbschaften, und er rückte in der Folge bis zu der ersten Hofbedienung hinauf, wozu nicht wenig die einnehmende und gefällige Sanftmuth seiner Frau, und ihre beyderseitige Rechtschaffenheit beytrug. Sie thut den Armen viel Gutes, dient jedem gern, dem sie helfen kann, mit Vorsprache und Wohlthaten, und nimt sich ihrer Verwandten, doch ohne unvernünftige Partheylichkeit, an.

Unser Wirth führte uns an den Hof, der mir besser gefiel, als ich erwartet hatte. Es dienen hier sehr viel verdienstvolle Fremde;[14] der Fürst ist ein vernünftiger Herr, etwas zurückhaltend, selbst ein wenig verlegen bey der ersten Bekanntschaft, aber vertraulich im genaueren Umgange; und die Fürstinn ist eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe.

Wir fuhren auch einige Meilen von da an den ... Hof, wo ich aber weniger Vergnügen fand. Unterwegens an der Strasse liegt ein Garten, der dem Herrn von Römhard gehört, den er selbst angelegt hat, und worauf er sich viel zu gut thut. Es ist aber ein kleiner Platz, und aus dieser elenden Handbreit Erdboden hat er ein ganzes Europa, Asia, Africa und America im Kleinen gemacht. Eine höchst groteske Mischung vom Antiken und Modernen, Ausländischen und Innländischen trotzt hier der weisen Vertheilung und Unterordnung dieser Gegenstände, welche der Schöpfer in der Welt, mittelbar oder unmittelbar, nach und nach entstehen zu lassen, und dem Bedürfnisse jedes Volks anzupassen gewußt hat. In einem alten ehrwürdigen[15] Tempel finden Sie hier ein französisches wollüstiges Boudoir; neben einem chinesischen leichten Häusgen die Rudera eines schweren gothischen Gebäudes; über einen kleinen Graben, der nur nach heftigem Regen von faulem Wasser angefüllt seyn kann, eine ungeheure Brücke, über welche die ganze Armee des Cyrus, mit aller Bagage, hätte marschieren können; Bäche, die sich wie Kaffeepretzel schlängeln – Kurz! ein Gewirre von Objecten, wobey man sagen könnte: Spectatum admissi, risum teneatis amici –

Wir blieben an diesem Orte nicht lange, und kehrten bald wieder zu unsern guten Freund zurück. Hier gieng die Zeit schnell vorüber. Wir besahen, was zu sehen war. Die Bibliothek des Prinzen hat nichts Vorzügliches, aber es ist eine brauchbare Sammlung, und der Rath, der die Aufsicht darüber hat, ist ein sehr redlicher, allgemein geachteter Mann. Ohne eben für ein großes Genie gelten zu wollen, hat er manche nützliche[16] Kenntnisse, ein ausserordentlich gutes Gedächtniß, und ist also freylich eine ganz andre Art vom Bibliothekar, als der, von dem ich Ihnen einst geschrieben habe.2

Man hatte mich vor einem Manne dort gewarnet, von welchem man sagte, er sey sehr medisant. Ich kann aber nicht sagen, daß ich ihn für so gefährlich gehalten habe. Zudem giebt es mancherley Arten Medisance. Daß jemand, der mehr Verstand als andre Leute, auch einen feineren Sinn für das Lächerliche hat, wundert mich gar nicht. Unterdessen billige ich den Spott, wo er nicht Nutzen bringen kann, gar nicht, und ärgere mich oft, wenn ich mich über den Fehler ertappe, über die Thorheiten andrer Leute laut zu lachen, doch geschieht dies gewiß immer mit fröhligen, ofnen, unbedachtsamen Herzen, ohne schädliche Absichten. Nie werden Sie finden, daß ich den redlichen Character[17] eines Mannes, auch nur im mindesten, selbst da, wo ich zweifelhaft bin, zweydeutig zu machen suche, und von dem ärgsten Schurken, der mich um Ehre und Glück gebracht hätte, würde ich nie nachtheilig reden, wenn ich ihm ein würkliches Uebel dadurch zufügen könnte, wenn er unter mir wäre, wenn die Folge meines Spottes thätige Rache werden könnte, wie Sie das wohl aus dem Beyspiel meiner Aufführung gegen den A ... G ... abnehmen können. Aber den stolzen Bösewicht, der am Ruder sitzt, gute Menschen unter die Füsse tritt, und sich, umringt von seinen Sclaven, mit seinen Bubenstücken sicher glaubt, die fromme, angebethete Heuchlerinn, die prahlende Tummheit einmal in effigie aufzuhenken; diesem Volke zu zeigen, daß es auch Menschen giebt, die den Muth haben laut zu sagen, daß der edeldenkende, weisere Bettler an ihrem Platze zu seyn verdiente – Dieser Versuchung kann ich nicht immer wiederstehn. Freylich ist es darum nicht recht gethan. Aber ich kenne[18] sehr viel frömmer scheinende Leute, die unendlich grösseren Schaden thun. Der Verläumder wird in öffentlichen Gesellschaften von jedermann, obgleich zuweilen mit teufelischem Hohnlächeln, alles Gute reden. Lassen Sie ihn aber die Gelegenheit finden, ein Paar Eheleute in der Stille zu entzweyen, oder durch ein hingeworfenes Wort bey dem Minister eine arme, schutzbedürftige Familie anzuschwärzen, und das vielleicht blos, weil man ihm die Tochter aus dem Hause nicht hat verkaufen wollen; dann ist er in seinem Fache –

Doch, wohin gerathe ich? Mein Brief wird langweiliger, als ein Heft mancher Monatsschriften. Ich eile also zum Schluß. Wir sind seit einigen Tagen wieder hier, werden nun bald unsre Geschäfte geendigt haben, und dann zurück auf meines Oncles Gut gehn.


[19] den 30sten.


Nur noch ein paar Worte! Da komme ich eben zu Hause, den Bauch voll Braten, Compoten, Kuchen, und die Ohren voll alter deutscher Arien, von fünf Demoisellen abgesungen – Gott segne ihre Stimmen! – Wir haben nemlich zum Abschiede bey dem Herrn Obristen gespeiset, der eine zahlreiche Familie hat. Seine lange hagere Frau hat mich so zum Essen genöthigt, daß ich würklich für einige Tage genug habe. Nach Tische sprach ich nur von ohngefehr von einem Claviere, das ich da hatte stehen gesehn, und nun gieng das Spielen und Singen los. Erst wollten die Mädgen nicht daran, und hernach konnten sie nicht wieder aufhören. Da hieß es: »ja das Mädgen hat eine ganz hübsche Stimme« – »Sing doch einmal das, von dem Vogel« – »Nein, Dortchen! mich laß Nummer Dreyzehn spielen, Du kannst es nicht recht« – Und dann geschrien – Alle zugleich – Die Nummern mußten durch, davor half nichts, ehe wir[20] uns empfehlen durften. So eben kommen wir nun zu Hause, lassen einpacken, und reisen morgen früh fort. Leben Sie wohl, mein Lieber! und antworten bald


Ihrem

Freunde

von Weckel.

Fußnoten

1 Dieser Brief findet sich nicht.


2 Im zwölften Briefe des ersten Theils, S. 158.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 22.
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