Neunzehnter Brief.

An den Herrn Baron von Leidthal in Urfstädt.

[173] Göttingen den 12ten August 1770.


Gestern erst bin ich hier angekommen, und habe den Befehl, den Leidenden, nach vorhergehender Untersuchung, zu erlösen, mitgebracht. Ich hätte schon vorgestern kommen können, wenn nicht die Wege von Friedberg aus bis Cassell, auch mitten im Sommer bey dem geringsten Regen, so schlecht wären, daß man nicht fortkömmt.

Meinen jungen Herrn habe ich unbändiger gefunden, als ich erwartet hatte. Er hat sich, während meiner Abwesenheit, einen Freund zugesellt, der seiner Gemüthsverfassung beständig neues Feuer giebt. Dieser Freund ist ein schwärmerischer junger Mann,[173] dem die Welt zu enge ist, der es übel nimt, wenn der Schöpfer nicht jedem Menschen, der ein bisgen Gefühl hat, Millionen zu verschwenden anvertrauet, damit er das erste das beste holde Mädgen (wäre es auch ein liederliches Cammerkätzgen, die er in dem Brande seiner Phantasie für das höchste Ideal von Unschuld hält) mit seiner Hand, und jeden irrenden Ritter mit seinem Geldbeutel glücklich machen kann.

Nun haben sich beyde kranke Jünglinge einander so verdorben, daß ich nicht mehr weiß, was ich mit meinem Zöglinge anfangen soll.

Mit solchen Leuten ist schwer zurecht zu kommen. Will man nicht in ihren läppischen Ton stimmen; so glauben Sie, man sey ein Mensch ohne Gefühl. Sie übersehen die ganze Welt, und sehen doch oft einen Nadelknopf für einen vom Himmel gefallenen Trabanten des Jupiter an, finden alles schön,[174] was nur übertrieben, unverständlich, und ausserordentlich ist; glauben, daß Schwärmerey Stärke des Geistes sey, da sie doch Krankheit der Seele ist, und der seichteste, schaalste Kopf schwärmen kann, es auch viel leichter ist einer selbst geschaffenen idealischen Welt nachzulaufen, als mit Ruhe, Muth und Würde zu tragen und zu leiden, was man aus der würklichen Welt nicht wegzuräumen vermag.

Schwärmerey ist aber von edlem Enthusiasmus so weit entfernt, als gesunde Wärme von Fieberhitze. Ohne Enthusiasmus bringt man es nie zu etwas Großem, Schwärmerey hingegen macht zu allem ungeschickt. Man zeige mir den Mann, der sich durch hervorleuchtende große Thaten ausgezeichnet hat, und der zugleich ein Schwärmer gewesen wäre! Aber die Maske der Schwärmerey hat freylich mancher, der Epoche gemacht hat, angenommen, und das deswegen, weil nichts leichter ansteckt, als[175] eben dies, und weil man alsdenn die Menschen nicht mehr zu fürchten braucht, wenn man ihnen erst den Kopf verwirrt hat.1[176]

Indessen ist verliebte Phantasie vielleicht die verzeyhlichste von allen. Sie verdient am mehrsten Mitleiden, weil sie aus zu großer Nachsicht gegen den natürlichsten und edelsten, aber auch gefährlichsten aller Triebe entsteht. Kenne ich sie nicht, diese unglückliche Leidenschaft? Habe ich nicht selbst genug durch sie gelitten? – Neque enim ignari fumus ante malorum.[177]

Zwey Wege sehe ich für den Herrn von Hohenau übrig. Er muß sich entweder jetzt in den Stand der heiligen Ehe begeben (und das werden Sie, mein gnädiger Herr! doch wohl nicht gut finden) oder weit von hier auf eine andre Universität gehn – Doch darüber Ihnen meine unterthänige Vorschläge zu thun, verspare ich auf eine andre Zeit.

Wir reisen morgen früh aufs Eichsfeld. Gott weiß, ob ich den guten Herrn noch lebend antreffen werde, oder nicht, und wie ich es mit dem Sohne halten soll –

Noch nie ist mein Kopf so verwirrt, mein Herz so bedrängt gewesen – Ihr Proceß, mein bester Herr! – Kaum wage ich es darnach zu fragen – O! mögten meine Wünsche erfüllt werden! – Es sind Wünsche des treuesten Herzens, das Ihnen ewig gewidmet bleiben wird, von


Ihrem

unterthänigen Diener

Meyer.

Fußnoten

1 So war es mit Mahomed, Cromwel, Z ... f, E ... n, R ... z, und andern. Eine Religionssecte, eine geheime Gesellschaft, eine Verbrüderung, eine Weisheitsschule, die zuerst ihre Zöglinge zu Schwärmern macht, beruht zuverlässig auf Betrug. Wer seinen Unterricht damit anfängt, mir Dinge vorzutragen, die den Resultaten der mir vom Schöpfer verliehenen gesunden Vernunft wiedersprechen, hat gewiß die Absicht mein Gehirn zu verwirren, damit ich ihm nicht in die Karte schauen soll. Will man mir Geheimnisse vortragen; so müssen es solche seyn, die meinem Verstande zu Hülfe kommen; nach und nach erläutern, was ich sonst nur halb verstand; mich aufklären, nicht betäuben; und umgekehrt: Diese Geheimnisse können über meine Einsicht seyn, aber sie müssen nicht mit gesunden Begriffen streiten. Man soll nicht mir so lange Unsinn vortragen, bis mein umwölkter Kopf ihn zu verstehen glaubt; sondern man soll von einfachen verständlichen Sätzen bis zu den abstracten fortschreiten; so daß ich in dem Folgenden stets die Bestättigung des Vorhergehenden finde. Der erste Schritt zu höherer Erkenntniß, ist Berechtigung der gewöhnlichen Erkenntniß. Diese gewöhnliche, allen Menschen gemeine Erkenntniß, ist gewiß der Maaßstab der Weisheit. Sie kann mit Vorurtheilen überladen, aber ihr Grund kann nie gänzlich falsch seyn, denn sonst wäre der Schöpfer ungerecht, der das ganze Menschengeschlecht so verstimmt hätte.

Wenn diese Anmerkung am unrechten Platze steht; so ist sie doch nicht weniger wahr, und die, für welche sie geschrieben ist, werden schon wissen, wohin sie zielt.

A.d.H.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 179.
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