Siebenzehnter Brief.

(Einschluß des vorigen.)

An die Frau von Hundefeld in ......

[156] Berlin den 16ten Junius 1771


Meine theuerste, beste Mutter!


Nicht eine einzige Zeile Antwort auf keinen meiner Briefe? – O Gott! ist denn das Andenken an Ihre unglückliche Tochter, durch einen einzigen Fehltritt, so ganz aus Ihrer Seele vertilgt, daß die Stimme der Natur kein Erbarmen mehr zu meinem Vortheile bey Ihnen erwecken kann? –

Um Erbarmen, um Mitleiden, um Rettung, sonst wage ich ja nicht um irgend etwas zu bitten. Sie haben mich selbst gelehrt, mich des Elenden anzunehmen, auch dann, wenn seine eigenen Verirrungen ihn in[156] dies Labyrinth geführt haben – Ach! sollten Sie, theuerste Mutter! jetzt das Ihrer einzigen Tochter versagen, was jeder Leidende, der um Ihre Hülfe flehet, bey Ihnen findet? – Ihrer Tochter, die, von ihrer zarten Kindheit an, Sie wie ihre treueste Freundinn lieben, Ihnen ihr Herz ausschütten und, wenn sie Kummer hatte, ihr weinendes Haupt an den Busen der besten Mutter drücken durfte? –

Aber damals kannte ich noch nicht, was Elend und Jammer heißt; Ruhig und leicht flossen meine Tage dahin; Meine Eltern liebten mich – Wo sind sie, jene glücklichen Tage? Verstoßen, verlassen, krank, die Hände ringend, quäle ich die schwarzen Stunden hin, seufze meinem Ende entgegen – Und o! mögte es nicht fern mehr seyn! –

Noch einmal werfe ich mich zu Ihren Füßen, theuerste, ewig geliebte Eltern! – Es ist so süß zu verzeyhen, wie der Vater[157] im Himmel verzeyhet – Machen Sie mit mir, was Sie wollen; Sperren Sie mich ein; Aber um Gottes willen! retten Sie mich aus dem Zustande, darin ich schmachte! –

Ich kann nicht mehr schreiben – Meine Kräfte verlassen mich – Ach! ich bin sehr krank –


Um 1 Uhr Nachmittags.


Weinen kann ich nicht mehr; die Quelle ist versiecht – Ich sitze zuweilen so ganz starr, gleichgültig da auf meinem Bette, und meine, es wäre mir recht leicht, recht wohl, hoffe dann immer, der Freund der Unglücklichen würde mich bald in seine Arme schliessen, die mütterliche Erde mich aufnehmen – Aber dann kömmt auf einmal wieder eine Stunde – Gott gebe niemand solche Stunden, vorzüglich dem nicht, der mich in dies Elend gestürzt hat, der mich nun verläßt – o Himmel! – dem ich gern verzeyhe – Aber es ist hart, grausam hart –


[158] Um 4 Uhr.


Ich habe wieder abbrechen müssen; das Fieber greift mich sehr an. – Die Stunden sind so lang – Wenn Ihnen doch jemand erzählen wollte, wo ich bin, wie es mir seitdem gegangen ist! – Woher soll ich selbst die Kräfte dazu nehmen? – Aber ich habe ja niemand mehr auf dieser Welt; Also muß ich wohl, so gut ich kann.

Der Franzose führte mich hierher – O! wäre ich nur bey der ehrlichen Frau in Worms geblieben! Mein Herz ahndete wohl, daß ich ihn, den ich liebte, nicht sehen würde – Auch will ich ihn in dieser Welt nicht wiedersehn – Ach! wenn doch das meine lieben Eltern versöhnen könnte! Ich wollte ihn hier nie wiedersehn – Er hat mich ja auch verlassen, läßt mich hier jammern –

Der Franzose führte mich hierher in das Haus – Gott weiß, was für ein Haus es ist. Kein Wirthshaus scheint es nicht zu[159] seyn. Es gehört einer Frau Schufit, und liegt in der Töpfergasse. Die Leute gefallen mir gar nicht. Es kömmt immer viel Gesellschaft her, wie ich höre – Aber ich habe fast mein Bette noch nicht verlassen, seitdem mich das Unglück hierher geführt hat –

Der Franzose gieng aus, sobald wir ankamen, und sagte, er wolle den Herrn von Hohenau holen; Er kam aber in vier und zwanzig Stunden nicht wieder – Gott! was ich unterdessen gelitten habe! – Meine Seele prophezeyete mir, was geschahe; Hohenau war nicht zu finden gewesen – Ja, welche Abscheulichkeit! Es war Erdichtung, daß er je in Berlin gewesen wäre – Gott im Himmel! sollte es möglich seyn, oder bin ich betrogen, entführt? – Allein er schrieb mir ja selbst, ich sollte mich seinem Freunde anvertrauen – Der Mann scheint auch so gerührt von meinem Unglücke – Aber doch – Ach, beste, theuerste Mutter! Ich weiß nicht, was ich denken soll, mag auch[160] nichts denken – Wenn Sie noch ein Fünkgen von Zärtlichkeit für das arme Mädgen fühlen, das Sie unter Ihrem Herzen getragen haben; so schicken Sie mir meinen Bruder, daß er mich errette, von hier wegbringe – Und soll ich Ihre Knie nicht wieder umfassen; so lassen Sie mich in ein Kloster einsperren – Ich will büßen für meinen Fehltritt, bis der Vater im Himmel, der so barmherzig und langmüthig ist, sich meiner annimt, die ich meinen theuren Eltern so viel Kummer mache, und Ihre ungehorsame Tochter aus dieser Welt nimt –.

Aber ist denn keine Verzeyhung für mich? – Sie werden ja nicht lange mehr über mich zürnen; Ich fühle schon den Tod in meinen Adern – Er sey mir willkommen, der süße Freund der Bedrängten! Seit dem Tage meiner Ankunft habe ich fast beständig krank gelegen. Der Arzt hat mir etwas verschrieben, aber ich nehme es nicht – Wenn mich nur der Schlaf nicht flöhe!


[161] Um 5 Uhr.


Der Franzose gab sich Mühe mir Muth und Trost einzusprechen; Er hat versprochen alle Mühe anzuwenden, ihn zu finden. Er führte mir eine Dame zu, die sich die Obristen von M .... nannte; Sie kömmt sehr oft zu mir – Allein ich kann kein Zutrauen zu ihr fassen. Sie will mich aufmuntern; aber sie redet so frey, ist so geschwätzig –

Gleich anfangs brachte sie ein paarmal, wenn sie wußte, daß ich ein wenig aufgestanden war, einen Verwandten mit, der ein Graf ist.1 Ich bath sie aber mir nie wieder Gesellschaft zuzuführen. Er war ein ganz artiger Mann; aber auch sehr frey – Vielleicht ist der Ton der Leute von gewissem Stande hier so – Ach! sie mögten Alle gut seyn, wenn ich nur Antwort von[162] meinen geliebtesten Eltern bekäme, oder der Tod meinem Leiden ein Ende machte! –

Die Frau von M ..... kömmt fast täglich; ich kann ihrer gar nicht los werden – Die einzige Person, mit welcher ich zuweilen gern rede, ist ein junges Mädgen, das mir aufwartet, und das auch Kummer zu haben scheint. Sie hat mir versprochen diesen Brief sicher zu besorgen –

Theureste Mutter! Ich kann nicht mehr schreiben – Mein Kopf ist so schwach – Ich habe nicht die Kraft, Ihnen mein ganzes Elend zu schildern – Mögte es ein Anderer thun! – Sie würden gewiß Thränen des Mitleidens und der Verzeihung schenken


Ihrer

unglücklichen

Charlotte.

Fußnoten

1 Derselbe Graf, an den la Saltière schreibt. Wer diese Obristen von M .... ist, entwickelt der letzte Brief in diesem Theile.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 3, Riga 1781–1783, S. 164.
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