Der 4. Absatz.

Von dem Geschmack, und dem Fühlen oder Berühren.

[191] Der 4te aus denen äusserlichen 5. Sinnen ist der Geschmack / oder das Kosten / ob etwas saur / röß / bitter oder süß seye: und demnach beschäfftiget sich dieser Sinn mit Unterscheidung der Speiß und des Geträncks.

Das Versuchen aber geschieht durch die Zungen /nicht zwar unmittelbar wegen ihr selbsten / sondern wegen denen zwey Nerven / welche von dem Hirn in die Zung herab gehen / in dieser aber durch viel Aederlein oder Zäserlein / gleich einem Netzlein / sich vertheilen / und dann weiters biß in den Schlund oder Rachen hinab erstrecken.92 Fürnemlich aber befindet sich die Krafft des Kostens zuvorderist in der Spitze der Zungen: deßwegen / wann wir etwas recht kosten und versuchen wollen / pflegen wir selbes vornenher an die Zungen zu heben. Darum wohl auch die Zung auf lateinisch lingua à lingendo, vom Lecken mag benahmset werden.

Der Geschmack bedeutet in sittlichem Verstand die Discretion oder die Krafft und Tugend zu unterscheiden / welches ein Theil der Klugheit ist.93 Dann gleichwie der Mensch durch den Geschmack die Speiß und Tranck verkostet / und nachdem ers gut /oder nicht gut / anständig oder unanständig befindet /annimmt oder ausschlagt / also soll der Mensch durch die Tugend der Discretion all sein Thun und Lassen /das er bevor hat / untersuchen und gleichsam verkosten / ob es thunlich[191] und recht / oder unthunlich und nicht recht seye. Er solle auch durch diesen sittlichen Geschmack der Bedachtsamkeit die gut- und böse Lehr und Exempel der anderen zuvor verkosten oder probiren / ehe er etwas erwählt / als gut und nutzlich annimmt / oder als böß und schädlich auschlaget: und also wird verhütet / daß man niemahl unbedacht und unbehutsam handlet.

Die Discretion oder Unterscheidungs-Krafft schreibt allen Tugenden ihre gewisse Maas vor: und ohne diese werden die Tugenden selbst zu Laster /sagt Petrus Ravis. Der Geschmack / sagt Arist. lib. de sens. c. 1. unterscheidet die gesunde oder nutzliche Speiß von der schädlichen / auf daß er diese fliehe /und nach der jenen trachte: auch die Discretion unterscheidet das Gut- und Nutzliche von dem Böß- und Schädlichen / jenes zu ergreiffen / und dieses zu vermeiden.

Aber gleichwie / wann der Geschmack verderbt ist / da kan er die Speiß und das Getränck nicht wohl unterscheiden / also / wo die Tugend der Discretion ab gehet / da erkennet der Mensch das Gute und Böse nicht von einander / er siehet offt das Laster für die Tugend / und die Tugend für ein Laster an.94 Wann der leibliche Geschmack schon eingenommen und verderbt ist von groben / schlecht- und ungesunden Speisen / da ist er nicht mehr fähig / die subtil- und gute Speisen recht zu kosten und zu geniessen: eben also / wann der Mensch eingenommen und bethöret ist von der eitel und betrüglichen Welt Freuden /Ehren und Wollüsten / da kan er die wahre himmlische Güter und Süßigkeit nicht mehr schätzen und würdig geniessen. Also ist es denen Israelitern in der Wüsten ergangen / indem sie das so edle Manna oder Himmel-Brod verachtet / und wiederum nach denen Egyptischen Zibelen und Knoblauch geseuffzet haben.95

Der fünffte Sinn endlichen ist das Fühlen oder Greiffen / und empfindliche Anrühren.96 Die Fühlungs-Krafft aber befindet sich in denen Nerven / welche sich durch den gantzen Leib erstrecken und austheilen. Durch das Fühlen oder Anrühren eines cöperlichen Dings empfindet man / ob es naß oder trocken /kalt oder warm / weich oder hart seye. Dieser Sinn ist vor anderen des Wollusts und des Schmertzens fähig: es thut dem Aug oder dem Ohr etc. nichts so wohl oder so wehe / als wie dem Fleisch / welches vermittelst der Nerven den Wollust und den Schmertzen am hefftigsten empfindet. Ubrigens / obwohlen das Greiffen oder Anrühren durch alle Glieder des Leibs geschieht / so geschieht es doch absonderlich mit denen Händen / als welche eigentlich von der Natur zu diesem Ampt verordnet seynd / auch deßwegen einer mittelmässigen Constitution seynd / auf daß sie also die Wärme und Kälte desto besser empfinden und unterscheiden können.

Die Händ seynd auch schier niemahlen müßig /sondern haben immerdar zu thun; deßwegen kan dieser Sinn wohl auf die Lieb ausgedeutet werden.97 Dann die Lieb ist sehr empfindlich / mitleidig / und also arbeitsam / oder würcksam / daß / wie die H. Vätter anmercken / wann sie nicht würcket / so ist sie keine wahre Lieb nicht: deßwegen ermahnet uns auch der Evangelist Joannes, sprechend: non diligamus verbo neque lingua, sed opere, wir sollen nicht nur mit der Zung und blossen Worten / sondern vielmehr in dem Werck selber die Lieb erzeigen. In denen Händ- und Füssen des menschlichen Leibs kommen die mehriste und stärckiste Nerven zusammen; weilen eben die in denen äusserlichen Liebs-Diensten die mehriste Geschäfft und Verrichtungen haben / wann man dem Nächsten beyspringen und helffen soll.

Ferners / gleichwie dieser Sinn / nemlich das Fühlen / denen anderen Sinnen / oder ihren Organis gemein ist / und ohnabläßlich vergesellschafftet (das Aug fühlet / das Ohr fühlet etc.) also ist die Lieb allen anderen Tugenden gemein / und muß nothwendig mit ihnen vergesellschafftet seyn / dann sonsten[192] seynd gar keine wahre Tugenden: wie der Apostel Paulus anmercket / indem er sagt: wann er schon diß oder jenes Guts thäte und hätte / aber die Lieb nicht hätte / so wäre alles nichts.98


Quelle:
Kobolt, Willibald: Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...]. Augsburg 1738, S. 191-193.
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