114. Der Nicus.

[72] Bei Schlüchtern liegt eine waldige Höhe, der Nickes oder Nicus genannt, der seinen Namen von den Nixen haben soll, die darin in einem See wohnen. Ihrer erwähnt folgende Sage:

In Schlüchtern, als da noch wenige Häuser erst standen, in der Nähe des Klosters, lebte ein reicher und mächtiger Ritter, der aber an all' seinen Schätzen nicht genug hatte, und einst von Habsucht getrieben, einen reichen, redlichen Mann ermordete. Doch kaum war die blutige That vollbracht, als der Himmel sich verfinsterte und durch die Luft ein hohes Weib daherschritt, das dem Ritter zurief: »Weil du solchen Frevel begangen hast, sollst du deinen Kopf verlieren und erst dann ihn wiederbekommen, wenn die rothe Blume des Elmaberges in ein Kind verwandelt wird!«[72] Und somit hieb das Weib dem Ritter den Kopf ab. Ein Mönch im Kloster, der beste Freund des Ritters, sah den Kopf daherrollen, fing ihn auf, erkannte ihn und weinte sehr, und begrub dann den Kopf neben dem Hause des Ritters, das sofort versank sammt all seinen Schätzen. Allnächtlich sieht man Flammen und Gestalten an der Stätte tanzen. – Der Ritter, nachdem er seinen Kopf verloren, schwang sich auf seinen Rappen und jagte hinaus in die Weite; der Mönch gesellte sich zu ihm, um ihn zu trösten und beide ritten darauf nach dem Nicus, wo die Nixen ihrem See entstiegen und einen Kreis um sie schlossen. Unter den Nixen ist auch des Ritters Tochter, die aus Schmerz sich zu ihnen gesellt hat. – Nachts um 12 Uhr, wenn der Vollmond scheint, kann, wer ohne Furcht ist, den Ritter in der Schlüchterner Sackgasse kommen sehen; ohne Kopf sitzt er auf seinem Roß; oft sieht er aus wie ein feuriger Heubaum; der Mönch reitet neben ihm. So gehts dahin durch die Nacht. Wer schnellen Fußes ist, kann ihnen nachfolgen bis in den Nicus und zu den Nixen; aber immer hinter den grauenhaften Reitern muß er bleiben, käme er vor sie, so wäre er augenblicklich ein Kind des Todes.

Mündlich; mitg. v.H. Dr. Bernstein in Schlüchtern.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXII72-LXXIII73.
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