133. Die weiße Jungfrau vom Schartenberg.

[84] Vor langer Zeit hütete einmal an einem Frühlingsmorgen ein Schäfer am Abhange des Schartenbergs bei Zierenberg. Er dachte eben an seine Armuth und an die Schätze, die im Schartenberge geborgen liegen sollen, als eine weiße Jungfrau aus dem Gebüsch freundlich auf ihn zutrat und ihn aufforderte, mit ihr in den Berg zu gehen. Der Hirt ließ sich nicht lange nöthigen, brach auf ihr Gebot eine schöne Blume aus dem Grase, die er vorher nicht bemerkt hatte und sogleich that sich der Berg auf. Große Haufen von Gold sah er drinnen glänzen und die Jungfrau gab ihm einen Wink, davon zu nehmen so viel ihm beliebe. Mit gieriger Hast fiel er nun über die Goldhaufen her, füllte seine Taschen mit dem edlen Metalle und wollte sich, ganz freudetrunken, wieder entfernen. Doch als er den Fuß ins Freie setzte, fiel der Berg mit Geräusch hinter ihm zu und er sah weder die Jungfrau noch die Geldhaufen mehr, und seine Taschen waren so leer wie zuvor, denn ach! er hatte nicht beachtet, daß ihm die schöne Blume drinnen entfallen war; er hatte sie liegen gelassen, und so war sein Reichthum zerronnen wie er ihn gewonnen hatte.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXXIV84.
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