144. Die Unkenkönigin.

[90] Ein mächtiger König herrschte einst in der Gegend, wo die Kinzig entspringt. Er hatte eine wunderschöne Tochter, die war die Freude seines Lebens. Aber so mächtig er war, so hatte doch ein tückischer Fürst der Berggeister noch größere Gewalt und verwandelte eines Tages die Königstochter in eine Unke oder Natter; seitdem ist sie die Unkenkönigin. Rasch eilt sie mit ihren Unken durch die Wälder des obern Kinzigthales und singt mit ihnen geheimnißvolle, klagende Lieder; oft besucht sie die Wohnungen der Menschen, trinkt zuweilen Milch an den Eutern der Kühe, oder ißt mit den Kindern aus ihren Tellerchen. Wer etwa Unken tödtet, dem sendet sie vieles Ungemach zu. Manchmal schaut sie klug und hoffend aus dem Farrenkraut hervor, das davon »Unkenkräutig« heißt. Das Merkwürdigste an ihr ist aber die Goldkrone auf ihrem Haupte. Oft schon haben Jünglinge nach dieser Krone gestrebt, sind aber von ihr gestochen worden, zur Strafe, weil sie nicht reines Herzens waren. Nur ein unschuldiger Jüngling darf hoffen diese Krone zu bekommen. Er muß sich der Unkenkönigin mit einem weißen Tuche nähern und dieses Tuch vor ihr ausbreiten, dann legt sie ihre Krone darauf. Er wird dadurch der reichste Mensch auf Erden, alles Gold, alles Silber, alle Edelsteine werden ihm zu Theil und die Unkenkönigin wird wieder eine Jungfrau.

Mündlich; mitg. v.H. Dr. Bernstein in Schlüchtern.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. XC90.
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