145. Die Wunderblume.

[90] Der Weg von Großalmerode nach Witzenhausen führt über eine waldige Höhe, den Hesselbühl, auf welcher zur Seite des Weges eine Wiese, die s.g. große Wiese liegt. Noch ist es nicht lange, als ein Mann diesen Weg wanderte, um ein Geschäft in Witzenhausen abzuthun. Als er auf die Höhe gelangte, fand er auf jener Wiese eine Blume von seltener Schönheit und er brach sie, um bei der Heimkehr seinen Kindern eine Freude damit zu machen. Doch kaum war er wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo er die Blume gefunden, als seinen Blicken sich daselbst ein köstlicher Palast zeigte. Verwundert blieb er stehen und traute seinen Augen nicht mehr, denn er hatte nicht nur niemals hier ein Gebäude gesehen, sondern auch noch niemals ein so prachtvolles Schloß. Erst nach einigem Zögern und nachdem er sich überzeugt hatte, daß es keine Täuschung sei, faßte er Muth und näherte sich dem Palast. Aber er fand Alles zu; Thüren und Fenster, Alles war verschlossen. Als er jedoch die Pforte berührte, öffnete sich diese plötzlich vor ihm, wie von Geistern aufgethan, und mit bangem Zagen betrat er das Innere. Hatte er aber schon über das Aeußere gestaunt, wie steigerte sich nun erst seine Verwunderung, als er die Gemächer betrat und diese mit einem nie geahnten Glanze und Reichthum geschmückt erblickte. Alles glänzte von den edelsten Metallen und den kostbarsten Edelsteinen, und sein Herz hüpfte vor Freude bei dem Gedanken, jetzt ein reicher Mann zu werden, reich wie keiner seines Ortes. Und dennoch kamen wieder Zweifel bei ihm auf, ob Alles denn auch Wirklichkeit sei? Und er trat wieder aus dem Gebäude, um sich umzuschauen, zu überzeugen. Da aber stürzte der Palast unter schrecklichem Krachen zusammen und schnell war Alles wieder spurlos verschwunden, – denn er hatte die Blume drinnen aus der Hand gelegt und sie vergessen.[91]

Auch Andere haben diesen Palast schon gesehen, aber sie bemerkten die Blume nicht und flohen bebend an der seltsamen Erscheinung vorüber.

Landau im hess. Volksbl. 1843 S. 51.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. XC90-XCII92.
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