146. Die zwölf Waizenkörner.

[92] In Nachdenken versunken lag einst ein Hirt am Abhange des Heiligenberges, als eine Maus dicht neben ihm aus den Steinen schlüpfte, welche in Menge den Berg bedecken, seit das Schloß, das ehemals auf seiner Stirn thronte, zerstört worden ist. Ohne Scheu wagte sich die Maus so weit in die Nähe des Hirten, daß er sie wohl mit der Hand hätte fangen können, legte ein Waizenkorn von purem Golde vor ihn hin, und blickte ihn klug und bittend an, als wollte sie sagen: nimm! Darauf verschwand sie und kehrte bald mit einem zweiten Körnlein zurück, das sie neben das erste legte; sie blickte den Hirten wieder an, doch der verstand sich nicht auf die Sprache ihrer Augen und so lief sie unter die Steine zurück, um ein drittes, dann ein viertes und noch mehr Körner zu holen, bis deren zwölf vor dem Manne lagen. Bei jedem einzelnen wiederholte sie ihre stumme Bitte ohne verstanden zu werden, und als sie auch, da sie das zwölfte gebracht, vergeblich ihre kleinen dunklen Augen bittend auf den blöden Hirten gerichtet hatte, fing sie traurig an, die goldnen Waizenkörner einzeln, wie sie sie gebracht, wieder unter die Erde zurückzutragen. Der Hirt erkannte seine Thorheit erst, als es bereits zu spät war; hätte er die Waizenkörner, deren jedes ein blankes Goldstück werth gewesen, genommen, so würde die Maus ihm immer mehr zugetragen haben; so aber hatte er sein Glück verscherzt.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. XCII92.
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