180. Ein Eichwald giebt Zeugniß der Unschuld.

[117] In dem Melsunger Forste gelangt man auf dem Wege nach Spangenberg durch einen Eichwald, in welchem die Bäume sämmtlich von oben abgestorben sind. Nach der Ursache befragt, erzählte ein Bauer folgende Sage: Vor langer Zeit ward ein Kindermädchen von seiner Frau fortgeschickt, mit dem Kinde an die frische Luft zu gehen. Die junge Magd wanderte, den Säugling auf dem Arme, mit einigen Freundinnen dem nahen Walde zu, sang und pflückte Erdbeeren bis zum Abend; plötzlich gewahrte sie zu ihrem Schrecken, daß sie ihre Gefährtinnen verloren hatte und vom Wege abgekommen war. Sie irrte lange umher und rief in den stillen Wald hinein; doch Niemand antwortete und es blieb ihr endlich nichts übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen und die Nacht im Walde zuzubringen. Allein die Prüfung sollte noch härter kommen. Zweimal sah sie die Sonne auf- und untergehen, ohne daß sie einen Ausgang aus dem Walde gefunden oder auch nur Menschen angetroffen hätte. Erst am dritten Tage begegneten ihr Bauersleute, welche sie auf den rechten Weg zurückbrachten. Daheim herrschte inzwischen Trauer und schmerzliche Klage um das verlorne Kind; denn drei Tage hatte man vergeblich gesucht. Als aber nun die Magd mit dem Kinde wohlbehalten zurückkehrte, da zeigte sich Freude und Dank gegen die schützende Vorsehung auf allen Gesichtern. Die Magd hatte die Zeit über nichts genossen,[117] als Beeren und Wurzeln des Waldes; das jammernde, nach der Mutterbrust verlangende Kind aber, dem sie solch rauhe Kost nicht geben durfte, hatte sie zuletzt in ihrer Angst an die eigne Brust gelegt und siehe, wie durch ein Wunder war diese plötzlich geschwellt von reichlicher nahrhafter Milch. Die Freude der glücklichen Mutter ward jedoch getrübt, als sie die Erzählung ihrer Magd angehört und das Wunder mit der Milch vernommen, sich davon auch selbst überzeugt hatte. Es entstand in ihrem Herzen der Argwohn, daß die Dirne heimlich geboren und ihr Kind umgebracht haben möchte. Sie sprach mit ihrem Manne darüber; die Magd ward in Verhör und Haft gezogen, des Kindermordes angeklagt, schuldig gesprochen und zum Tode verurtheilt. Doch betheuerte diese bis zum letzten Augenblicke ihre Unschuld. Auf der Richtstätte angekommen wendete sie sich noch einmal an ihren Richter und sagte: »So gewiß, als ich unschuldig sterben muß, so gewiß möge Gott geben, daß die Spitzen der Eichen in diesem Walde alle verdorren!« Das Urtheil ward an ihr vollstreckt, aber die Gipfel der Bäume wurden bald darauf welk und starben ab und bis auf diesen Tag verdorren schon frühzeitig die Kronen der Eichen in diesem Forste.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXVII117-CXVIII118.
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