202. Schreckliches Todesurtheil.

[130] Auf dem Schlosse Spangenberg wohnte lange zuvor, ehe es die traurige Bestimmung erhielt, zum Staatsgefängniß zu dienen, ein reicher mächtiger Herr, welcher weit und breit in großem Ansehn stand. Die Dörfer im Thale, die Berge, die Wälder rings umher waren sein Eigenthum und oft rief der muntere Ton seines Hifthorns das schlummernde Echo wach, lange zuvor, ehe die ersten Strahlen der Morgensonne die Wipfel der Eichen auf dem hohen Bromsberge oder dem gegenüber liegenden Junkernkopfe vergoldeten. Allein indeß der Schloßherr mit seinen Jagdgenossen der Fährte des scheuen Wildes folgte, stellte daheim im häuslichen Reviere ein Edelknecht, minder tugendhaft als Fridolin, einer schönern Beute nach, indem er mit verführerischen Liebesworten des Ritters junge und reizende Hausfrau umstrickte. Lange blieb sein böses Treiben ein Geheimniß, bis der Zufall den Gemahl auf die Entdeckung führte. Anfangs verwies er dem Jüngling nachsichtig, aber mit strenger Warnung sein unehrerbietiges Gebahren; doch beobachtete er denselben unter dem Scheine der Sorglosigkeit um so aufmerksamer, und als er nach einiger Zeit gewahrte, daß der Edelknecht die Absicht, sein Weib zur Untreue zu verleiten, nicht aufgegeben hatte, ließ er ihn greifen und in das unterste Verließ werfen. Darauf sandte er seine Diener aus, alle Fürsten, Grafen und Herren der Nachbarschaft zu einer großen Jagd einzuladen. – Am bestimmten Tage füllten sich die weiten Hallen des Schlosses mit edlen Gästen. Die Jagd begann. Felder und Wälder erbebten unter den Hufen der Rosse; das Gebell der Hunde, das Halloh der Jäger und Treiber vermischt mit den Sterbeseufzern des erlegten Wildes, erfüllten die Luft, bis die einbrechende Nacht der Lust ein Ende machte und ein festliches Mahl die Genossen im großen Rittersaale zu Spangenberg wieder[131] vereinte. Dort saßen sie noch, als längst die Schüsseln von der Tafel verschwunden waren und labten sich an köstlichem Weine bei Gesang und muntern Scherzen. Auch der Burgherr schien fröhlich und unbefangen, als er sich von seinem Sitze erhob und lachend rief: »Wie nun, ihr Herren! wenn daheim eurer Knappen einer die Gebieterin mit Liebesschwüren bethörte, indeß ihr hier arglos euch vergnügt?« – »Dem Burschen schlitzt ich den Leib auf und gäb ihm sein eigen Gedärm zur Speise!« rief ein Ritter vom untern Ende der Tafel. »Nicht doch!« fiel ein Anderer ein, »ich zöge den Buben nackt aus, ließe ihn mit Honig beschmieren und an der obersten Thurmspitze in einem Käfig aushängen, daß das Geschmeiß ihn zu Tode kitzele.« – »So soll es sein!« rief der trunkene Chor. Neue Scherze kamen an die Reihe und einer verdrängte den andern, bis lange nach Mitternacht die Zecher das Lager suchten, um ihren Rausch auszuschlafen und sich zur Heimkehr zu stärken. – Gegen Mittag des andern Tages war es wieder so still wie gewöhnlich im Schlosse Spangenberg. Der Ritter aber begab sich hinab in die Stadt und bestellte bei einem geschickten Schmied einen großen Käfig von Eisendraht. Als dieser fertig war, ließ er den Edelknecht aus dem Gefängniß holen, entkleiden, mit Honig beschmieren und in den Käfig stecken, der an die höchste Zinne des Thurmes gehangen ward. Die Süßigkeit lockte unzählige Insecten herbei, welche den Unglücklichen bald so bedeckten, daß sein ganzer Körper schwarz gemalt schien. Das Kitzeln und Stechen dieser winzigen Thierchen, die sengenden Strahlen der Augustsonne und ein brennender Durst bereiteten ihm solche Folterqualen, daß er schon nach wenigen Tagen denselben erlag und seinen Geist aufgab. – Seitdem hat man in Spangenberg alljährlich und bis auf diese Zeit auf den Tag Laurentii (10. August) oder auch einen Tag früher oder später, einen Schwarm kleiner Insecten am Thurme des Schlosses schweben gesehen. Eine[132] Stunde lang hängen sie gleich einer schwarzen Wolke über der Thurmspitze, fallen dann auf einen nebenan aus dem Dache ragenden hohen Schornstein und verbreiten sich durch diesen in die untern Gemächer des Schlosses, wo sie oft zollhoch den Fußboden in Zimmern und Gängen bedecken. Die Thierchen sind nach wenigen Stunden entweder bereits todt, oder so matt, daß sie nicht mehr auffliegen können. Sie werden dann mit Besen zusammengekehrt und auf den Kehricht geworfen. Auch den Drahtkäfig haben alte Leute in Spangenberg noch gesehen. Man sagt, daß einer der letzten Commandanten des Schlosses ihn verkauft und deshalb von seinen Vorgesetzten sich eine Strafe zugezogen habe1.

Mündlich.

1

Schon vor mehreren hundert Jahren haben diese Insecten die Aufmerksamkeit einiger Topographen und Geschichtschreiber auf sich gezogen. Ein Manuscript vom J. 1597 erwähnt derselben wie folgt: »Auff dem Schloß allhier (zu Spangenberg) fallen Jährlich auf Laurentii Tag gemeiniglich (sonst auch vor oder hernach doch selten) ein grosser Schwarm grosser geflügelter Ameisen durch einen Schornstein, so auf der innern fordern Pforten durch den Thurmb gehet und sonst durch keinen Schornstein mehr, kriechen etwas auf dem Schloßplatze herumb, sterben aber endlich und geben einen üblen Gestank von sich, und allezeit, wann sie sich sehen lassen und schwermen, kommt gemeiniglich an selbem Tage ein greulich Sturm und Donnergewitter.« Der Verfasser der hessischen Zeitrechnung zum J. 1693, welcher dies mittheilt, setzt dann hinzu: »Diese Würmlein seyn mir anno 1676, da mirs eben den Weg hindurchgetragen, um Laurentii selbsten gezeiget worden.« Olaus Magnus, Bischof von Upsala, welcher 1567 eine Geschichte der mitternächtlichen Länder und Völker herausgab, erzählt darin, die fliegenden Ameisen nisteten auf Kirchthürmen und ihr Schwärmen deute an, daß der König vom Volke erschlagen oder aus dem Lande vertrieben werde. Nach ihm prophezeiheten Schwärme von Ameisen, welche 1521 zu Holm und Upsala gesehen wurden, die bald nachher geschehene Verjagung des Königs Christiern (Olaus, Magnus, hist. gent. septentr., lib. XXII). Im August 1852 war es mir vergönnt, die »fliegenden Ameisen« in Spangenberg mit eigenen Augen zu sehen. Es war in der That die schwarze Ameise (Formica nigra), wovon das Männchen geflügelt, das Weibchen ungeflügelt ist, bis dem letzteren Ende Juli und Anfangs August ebenfalls Flügel wachsen. Männchen und Weibchen verlassen zu dieser Zeit ihre Stöcke, um zu schwärmen. Während dem Schwärmen geht die Begattung vor sich, wie dies auch bei den Mücken, Schmetterlingen etc. der Fall ist. Nach der Begattung, womit die Bestimmung der Männchen erfüllt ist, fallen diese aus den Schwärmen herab matt zur Erde nieder und sterben bald darauf. Die Weibchen aber fliegen nach ihren Stöcken zurück oder werden auch von den s.g. Arbeiterameisen aufgesucht und in den Stock zurückgebracht, legen Eyer und sterben ebenfalls. Die Eyer werden von den zum Stock gehörigen Arbeiterameisen (Weibchen mit verkümmerten Geschlechtsorganen) gewartet und bis zur Entwickelung der jungen Ameisen gepflegt; diese schwärmen dann im Juli oder August ebenfalls, wie ihre Eltern im vorigen Jahre. Sehr warme Sommer sind der Entwickelung der Ameisen günstig und so kann es kommen, daß durch das Zusammenstoßen vieler Schwärme aus der Umgegend, diese einer schwarzen Wolke ähnlich werden. Die Schwärme hängen sich gern an hohe Thürme, Bergschlösser etc. Das Schwärmen der Ameisen ist jedoch kein Wandern und wenn im Sommer 1852 ein deutsches Blatt berichtete, die Schwärme fliegender Ameisen seien an dem und dem Tage auf ihrem Zuge zu X angekommen, so ist das Unverstand. Der Schwarm bleibt immer in der Nähe der Stöcke, weil die Weibchen in dieselben zurückkehren. Ohne die sorgsame Pflege der ungeflügelten, im Stocke zurückbleibenden Arbeiterameisen wird aus dem Ey keine Made, aus der Made keine Puppe und aus der Puppe keine Ameise.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXXX130-CXXXIII133.
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