251. Die Weissagung.

[177] Ein reicher Ritter in der Nähe von Trendelburg hielt sich einen Sterndeuter, welcher ihm eines Tages die unheilvolle Weissagung mittheilte, daß die Tochter, womit der Himmel sein Weib[177] segnen werde, dermaleinst vom Blitz erschlagen werden würde. Der erste Theil dieser Prophezeihung ging denn auch bald in Erfüllung: es ward ihm ein gesundes Töchterlein geboren. Das Schicksal zu verhüten, das in den Sternen dem Kinde zum Voraus bestimmt war, baute der Ritter ein unterirdisches Gemach und die Eltern warteten desselben darin, bis es zur Jungfrau herangewachsen und 18 Jahr alt geworden war. Da sammelte sich einst in schwüler Sommerzeit ein Gewitter über dem Schlosse; Donner und Blitz fuhren ohne Unterlaß aus dem schwarzen Gewölke. Unter Furcht und Hoffnung vergingen Tag und Nacht. Das Wetter verzog sich nicht; auch nach der zweiten Nacht trat keine Aenderung ein. Nach der dritten Nacht aber bat die Tochter dringend ins Freie geführt zu werden und der Vater, der unabwendbaren Fügung nachgebend, willigte endlich ein. Kaum hatte sie ihr unterirdisches Gemach verlassen, als dasselbe, von einem heftigen Donnerschlage erschüttert, zusammenstürzte, und als sie den Fuß ins Freie setzte, tödtete ein Blitzstrahl den zarten Körper der Jungfrau. Tief fuhr der Blitz in die Erde, eine Oeffnung zurücklassend, welche sich mit Wasser füllte. Das Loch wird noch jetzt der Wolkenborst genannt. – Lange Jahre vergingen, da wollten pflügende Bauern einmal die Tiefe des Wassers ausmessen. Sie banden ihre Ackerseile an einander, befestigten einen Stein an das untere Ende und senkten den Stein in das Wasser. Plötzlich rief eine Stimme aus der Tiefe:


Laßt sinken,

Sonst müßt ihr Alle ertrinken!


Erschrocken ließen sie die Seile fallen und ergriffen die Flucht. Am andern Tage fand man diese in dem s.g. Waschbrunnen, welcher nach Ostheim zu quillt. Einmal hütete ein Schäfer an dem Wolkenborste, als eine Jungfrau in seltsamer alterthümlicher Tracht ihm erschien. Sie winkte ihm, daß er über das Wasser[178] herüberkommen möchte; doch wagte er nicht auf den Wasserspiegel zu treten, da er nicht anders glauben konnte, als daß er augenblicklich in die Tiefe sinken würde. Zweimal noch erschien die Jungfrau dem Schäfer und flehte ihn an über das Wasser zu gehen, damit sie erlöst würde. Allein er hatte nicht den Muth dazu. Die Jungfrau soll alle sieben Jahre erscheinen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXVII177-CLXXIX179.
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