297. Landgraf Philipp der Großmüthige.

[214] Vorzeiten pflegten die Landgrafen von Hessen zuweilen unbekannter Weise in ihrem Lande umherzureisen, der Unterthanen Zustand zu erforschen. Auch Philipp dem Großmüthigen wird dies nacherzählt. Dieser hatte einst aus erheblichen Ursachen eine außerordentliche Landsteuer ausgeschrieben und die Amtleute waren eben beschäftigt, dieselbe einzubringen, als dem Landgrafen einmal auf[214] der Jagd eine Bäuerin begegnete, welche ein Gebund Leinengarn auf dem Kopfe trug. »Was tragt ihr und wohin wollt ihr?« fragte der Fürst. Die Bäuerin, welche ihn in seinen schlichten Kleidern nicht erkannte, erwiederte: ein Gebund Garn, das wolle sie in der Stadt verkaufen, damit sie die Schatzung entrichten könne, sie müsse es aber selbst wohl an zehn Enden entrathen. Auf die Frage, wieviel es ihr zu der Steuer ertrage? antwortete sie: »Einen Ortsgulden.« Da zog der Landgraf seinen Säckel und gab ihr das Geld, damit sie ihr Leinen behalten könnte. »Ach, nun lohn's euch Gott, lieber Junker!« rief das Weib, »ich wollte der Landgraf hätte das Geld glühend auf seinem Herzen!« Der leutselige Fürst ließ die Bäuerin ihres Weges gehen, kehrte sich zu seinem Gefolge und sagte lächelnd: »Schaut, ist das nicht ein wunderlicher Handel? Den bösen Wunsch habe ich mit meinem eignen Gelde gekauft!«

Winkelmann, V, 586.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXIV214-CCXV215.
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