304. Der Freibrief.

[222] Landgraf Moriz, welcher die alte Burg in der Waldau niederreißen und ein Försterhaus an die Stelle bauen ließ, hielt in diesem Dorfe eine große Jägerei und sprach oft daselbst ein. Einst traf er im Felde einen Bauern, welcher zwei sehr magere Pferde vor seinem Pfluge hatte. »Warum hast Du so schlechte Pferde?« redete ihn der Fürst an. »Gnädigster Herr«, erwiederte der Bauer, »das geht ganz natürlich zu. Es lasten auf meinem Gute so viele Abgaben, daß mir vom Ertrage wenig übrig bleibt, daher kommt es, daß ich mit meinen Pferden es den andern Bauern im Dorfe nicht gleichthun kann.« Als nun der Bauer seine Abgaben herzählte und der Landgraf fand, daß die Last ungewöhnlich groß war, sagte er: »Gehe ins Dorf und hole mir Feder und Dinte, ich will indeß beim Pfluge bleiben.« – Der Bauer eilte von dannen und kehrte nach wenigen Minuten mit dem Verlangten zurück. Der Landgraf nahm einen Papierstreif aus seiner Brieftasche und schrieb auf dem Rücken des Landmanns diesem einen Freibrief für sein Gut, wonach nur noch 12 Metzen Frucht darauf haften blieben. Da dauerte es denn gar nicht lange, so hatte der Bauer die blanksten Pferde im Dorfe. Seine Nachkommen haben nie mehr[222] als 12 Metzen abgegeben, obgleich andere Bauerngüter von gleicher Größe mehr als das Zehnfache geben müssen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXII222-CCXXIII223.
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