305. Tod des Erstgebornen.

[223] Eines Morgens wurde dem Landgrafen Moriz gemeldet, daß sein jüngstes Kind in der Nacht gestorben sei. Der bestürzte Vater schöpfte Verdacht, daß die Amme es im Schlafe erdrückt haben möchte, forderte sie vor sich und machte ihr Vorhalt darüber. Die Magd vermaß sich zwar hoch und theuer, daß sie unschuldig an dem Tode des Kindes sei, konnte aber die Verdachtsgründe des Landgrafen, der eine böse Absicht dabei im Spiele glaubte, nicht widerlegen, und so wurde sie zum Tode verurtheilt. Als sie nun auf der Richtstätte anlangte und niederkniete, um den Todesstreich zu empfangen, sprach sie: »Ich bin so gewiß unschuldig, als in Zukunft jedesmal der Erstgeborne dieses fürstlichen Geschlechts früh sterben wird!« Nachdem sie dies gesprochen, flog eine weiße Taube über ihr Haupt hin, und ein rascher Hieb des Henkers machte darauf ihrem Leben ein Ende. Die Weissagung aber kam in Erfüllung und der älteste Sohn des fürstlichen Hauses ist noch immer in früher Jugend gestorben.

Mündlich. – Br. Grimm, d. S. 260. – Vergl. auch v. Rommel, hess. Gesch. V, 8, Anm. 3.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXIII223.
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