306. Das Fürstenloch auf der Plesse.

[223] Die Plesseburg zieht alljährlich an den schönen Sommertagen viele Besucher von nah und fern heran, und das Auge des Naturfreundes weilt mit Vergnügen auf der herrlichen Aussicht, die ihm droben geboten wird und betrachtet mit einem geheimen Grauen[223] die wilden Parthien und jähen Senkungen des Schloßberges. Ein steiler Absturz, dessen Tiefe man nicht ohne Schwindel übersehen kann, heißt das »Furstenloch« und die Führer knüpfen daran folgende Erzählung:

Im Anfang des dreißigjährigen Krieges übernachtete einmal zur Winterzeit die Landgräfin Juliane – Gemahlin des Landgrafen Moriz von Hessen – auf der Plesse. Von Feinden umringt und bedroht, brach sie früh Morgens wieder auf, bestieg mit ihrer Tochter ihren Reisewagen und ließ den Schloßberg hinunter fahren; aber der ganze Berg war mit Glatteis überzogen, so daß die Rosse nicht festen Fuß fassen konnten und ausglitten. Da rutschte, von seiner eigenen Schwere fortgerissen, der Wagen den Abhang hinab, unaufhaltsam jenem entsetzlichen Abgrund zu und stürzte in die gähnende Tiefe. Aber ein Wunder hatte die Fürstinnen gerettet; unversehrt verließen sie den Ort, welchen die Trümmer ihres Wagens und die todten Pferde bedeckten, und wanderten zu Fuße nach dem nahen Dorfe Edigehausen, wo Juliane, zum dankbaren Gedächtniß ihrer wunderbaren Rettung, den Armen eine jährliche Spende aussetzte.

Mündlich. – Justi, Denkw. III, 454.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXIII223-CCXXIV224.
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