307. Das Lullusfest in Hersfeld.

[224] Der 16. October ist der Gedächtnißtag des Stifters und Gründers von Hersfeld, des Erzbischofs Lullus von Mainz († 787). Dieser Tag nicht allein, sondern die ganze Woche, in welche er fiel, ward in Hersfeld gefeiert und man kannte dort kein größeres Fest, als das der Kirchweihe, das Lullusfest. Im Vorgefühl der kommenden Freuden ertönte, schon ehe das Fest begann, Abends in den Straßen häufig der Ruf: »Broder Lolls!« oder auch »Lolls!« Am Lullusmontage ward eine Bretterbude auf dem Markte erbaut,[224] ein großer Holzstoß vor derselben aufgerichtet und ein angemessener Vorrath von Getränken herbeigeschafft. Das Alles mußte im Laufe des Vormittags geschehen; sowie die Uhr die Mittagsstunde verkündete, begann das Fest, der Holzstoß ward angezündet, die Glocken der Stiftskirche läuteten die Freiheit des Kirchweihemarktes ein und das Geschrei: »Lolls! Lolls! Brodr Lolls!« das schon den ganzen Vormittag die Luft erfüllte, ward immer toller und toller. Jetzt erschienen in der Bude, von rauschender Musik empfangen, die beiden Bürgermeister von Hersfeld, der städtische Wagemeister, welcher in einen blauen Mantel gehüllt war, und der Stadtdiener, dieser einen Sack voll Nüsse auf der Schulter tragend. Während sich die drei ersteren zu dem für sie bereit gehaltenen Mahle niedersetzten, warf der letztere seine Nüsse in den wildjubelnden dichten Schwarm der Stadtjugend, welche ungeduldig dieses Augenblicks harrend und begierig nach den Nüssen haschend, alsbald sich zu einem Knäuel zusammendrängte und in eine großartige Balgerei verfiel. Das dauerte bis gegen 1 Uhr, dann begann in der Bude der Tanz. Das Feuer ward inzwischen Tag und Nacht erhalten; erst in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag ward dasselbe gelöscht, die Bude abgebrochen, die Lustbarkeit aber noch bis zum Sonntage fortgesetzt. Die am Lullusmontage in die Bude gebrachten Getränke wurden für städtische Rechnung verkauft; Bäcker und Metzger waren ihrer Taxen entbunden, sobald die Freiheit eingeläutet worden, und alle Getränke durften frei in die Stadt eingeführt werden. Auch hatten in der Lulluswoche alle Dörfer des Amtes Hersfeld ihre Kirchmessen und mußten die Musikanten dazu aus der Stadt abholen.

So ward das Lullusfest noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts gefeiert; seitdem haben aber die Behörden soviel daran zu ändern und zu beschneiden gefunden, daß jetzt fast nur noch ein matter Schatten davon geblieben ist.

Mündlich. – Landau, Kurhessen 516.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXIV224-CCXXV225.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen