308. Das Steigerfest in Amöneburg.

[225] Auf der breiten Hochfläche eines 541' über den Wasserspiegel der Ohm sich erhebenden Basaltberges liegt das früher mainzische Städtchen Amöneburg, bekannt schon seit Bonifazius, welcher nach seiner Ankunft in Hessen (722) hier die ersten Bekehrungsversuche machte. Amöneburg ist demnach ein uralter, gewiß von unsern heidnischen Vorfahren schon heilig gehaltener Ort, eine Vermuthung, die darin ihren Grund hat, daß unter der an der Ostseite des Berges steil abfallenden, 70 bis 80' hohen Felswand vormals Gericht gehalten wurde, und daß der Apostel der Deutschen hier ein Kloster und eine Kirche anlegte, gerade so, wie er einige Jahre später zu Fritzlar, wo die heilige Donnereiche stand, und nahe dem alten Gaugericht von Maden (Mattium) eine Kirche erbaute. Die Stadt Amöneburg, welche durch ihre Lage und ihre Mauern geschützt und durch zwei feste Burgen gedeckt war, ist gleichwohl mehrfach belagert und erobert worden, namentlich wurde sie im dreißigjährigen Kriege hart heimgesucht. Die Bürger feierten bis in die neueste Zeit zur Erinnerung an eine glücklich zurückgeschlagene feindliche Bestürmung jährlich am 1. Januar das s.g. Steigerfest, welches von der Geistlichkeit durch eine kirchliche Feier eingeleitet wurde und wozu der Stadtrath förmliche Einladungen an die mainzischen Beamten und Burgmannen zu erlassen pflegte. Man glaubte seither, das Fest datire von jener in der Sylvesternacht 1645 durch die in Kirchhain liegenden hessischen Truppen versuchte Ersteigung und Ueberrumpelung, welche, auf der steilsten Seite unternommen, durch die Wachsamkeit einiger Weiber noch vereitelt wurde, als sie schon halb gelungen war. Die Vordersten hatten nämlich auf den mitgebrachten Leitern bereits die Mauer erstiegen und waren in die Stadt hinabgesprungen, als auf das Hülfegeschrei der Weiber die Besatzung herbeieilte.[226] Die kühnen Eindringlinge wurden mit Uebermacht angegriffen und erschlagen, die Uebrigen sammt den Leitern in die Tiefe hinabgestoßen. Allein das Steigerfest ist doch viel älter, wie einige in neuerer Zeit aufgefundene Briefe ergeben. Im Jahr 1642 berichtete Johann Daniel von der Nuhn' an den Kurfürsten von Mainz: »Es sei vor hundert und mehr Jahren die Stadt Aumeneburgk einsmals bey Nacht feindlich bestigen, aber wieder zurückgeschlagen worden, deshalben dann die von Aumeneburgk noch alle Jahr vff selbigen Tagk das Steigfest genant, zue halten pflegen, bey welchem dan zue forderst E. churf. Gnaden Beambten, die Burgkleut, Burgermeister vnd Rath zu erscheinen citiret werden, vngeachtet, daß nuhn vor 80 Jahren mein Vetter Christoffel von der Nuhn damals zue Martorff gewohnt, seine Burgmans Gerechtigkeit gleichwol in diesem helfen halten, auf solchem Fest in der Kirchen beizuwohnen citirt worden oder warumb er nicht erscheinen können, seine Entschuldigung einbringen müssen.« Und in der That findet sich noch ein anderer Brief vom 4. Januar 1560, worin Christoph von der Nuhn, Burgmann zu Amöneburg, an den Stadtrath daselbst schreibt: »Evern Begern nacher hab ich das vergangen Steigfest nicht bey euch erscheinen können, den ich bin denselben Tag verritten gewest.« – Diese Briefe beweisen zur Genüge, daß das Steigerfest nicht auf die versuchte Ersteigung der Stadt im J. 1645, sondern auf eine weit frühere Zeit und auf ein Ereigniß zurückzuführen ist, von welchem jede Kunde verloren gegangen zu sein scheint.

Landau, Kurhessen, S. 419, und in der Zeitschrift des hess. Gesch.-Ver., V. 92.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXV225-CCXXVII227.
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