310. Das Hirschessen.

[229] Zur Zeit, als Schmalkalden noch unter den hennebergischen Grafen stand, ward in der Stadt ein großes s.g. Hirschessen gehalten. Die Mahlzeit war ein öffentliches Bürgerfest. Jedes Jahr erhielt der Magistrat aus den gräflichen Jagdrevieren einen geschossenen Hirsch geliefert, wogegen der Jägermeister 10 Gr. und zwei Maß Hafer, weiter für den Hirschkopf 10 Gr. und ebensoviel für Brod zur Atzung der Hunde, sodann der Jägerbube 9 Pfennige und 2 Gr. 4 Pf. »Wartegeld«, endlich der Knecht 8 Gr. erhielten. Der Hirsch wurde unter sämmtliche Beamte der Stadt vertheilt. Ein Rathsmeister und der Stadtschreiber begaben sich hierauf zum Grafen, um für das erhaltene Geschenk zu danken und denselben zu bitten, den Tag für das übliche Festmahl zu bestimmen. Am Tage vor dem Hirschessen verehrte der Stadtrath dem Grafen durch dieselben Deputirten ein halbes Fuder und sechs Kannen Wein und ein Faß Einbecker Bier und ließ ihn einladen, mit seinem Hofstaate das Fest zu verherrlichen. Gewöhnlich wurden die beiden Rathsglieder zur gräflichen Tafel gezogen. An dem darauf folgenden Tage fand sich die gräfliche Familie mit ihrem Hofstaate und den dazu gebetenen Gästen auf dem Rathhause ein. Ihr Aufzug bestand fast immer aus 60 bis 80 Personen, zu Pferde, zu Wagen und zu Fuße. Das Fest wurde mit einem Schauspiele eröffnet, wozu der Stoff meistentheils aus der Bibel entlehnt war. Dann setzte man sich zu Tische. Die Mahlzeit bestand gewöhnlich aus drei Gängen: auf den ersten wurden Fische, auf den zweiten Braten, auf den dritten Krebse, Kuchen, Confect und Obst gegeben. Nach[229] aufgehobener Tafel erhob man sich zum Tanze. Der Graf tanzte mit seiner Gemahlin, die Hof-Edelleute folgten mit den Frauen und den Töchtern der Stadträthe. – Auch die Handwerksleute führten 3 bis 4 Tage ein festliches Leben. Die Gesellen zogen mit Musik vor das Rathhaus, hielten mit ihren Schönen einen öffentlichen Tanz und empfingen vom Stadtrathe ein herkömmliches Geschenk. Wurde in einem Jahre der Hirsch nicht geliefert, so erfolgten im nächsten Jahre deren zwei.

Es ist noch eine Urkunde vorhanden, datirt vom Montag vor dem Tage Johannes des Täufers 1379, worin Graf Heinrich von Henneberg für sich und seine Erben die Stadt Schmalkalden mit einem »gantzin Hircz« belehnt, welcher ihr jährlich auf Mariä Himmelfahrt (15. August) auf das Rathhaus geliefert werden sollte.

Häfner, die 6 Kantone der vormal. Herrsch. Schmalkalden, II, 8, u. Beil. 2.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXXIX229-CCXXX230.
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