Guter Wein, gut Latein

[91] Guter Wein lehrt gut Latein.

Sitz' ich bei dem vollen Glase,

Mein' ich, ein Apoll zu sein,

Und es hebt sich meine Nase

In die Wolken fast hinein.

Zöpfe, Beutel und Perrücken

Wachsen flugs auf meinem Haupt,

Es mit Ehren auszuschmücken,

Die kein Säkulum ihm raubt.
[91]

Guter Wein lehrt gut Latein.

Seh' ich schon der Flasche Boden,

Ist mir auch Apoll zu klein;

Kühner, als die kühnsten Oden,

Stürm' ich in die Welt hinein.

Und nach meinem Saitenspiele

Lass' ich sich die Reiche drehn;

Liberale und Servile

Müssen Musterung bestehn.


Guter Wein lehrt gut Latein.

Ist der Tisch erst naß geworden,

Werd' ich gar ein Taktikus,

Lasse nach der Regel morden,

Und es geht auf Hieb und Schuß.

Mit dem Finger mal' ich Flüsse,

Seen mit der ganzen Hand;

Meines rothen Weines Güsse

Strömen für das Vaterland.


Guter Wein lehrt gut Latein.

Ist der Tisch dann abgewaschen,

Steck' ich ein das Schwert indeß,

Und vor meinen leeren Flaschen

Halt' ich friedlichen Kongreß.

Länder reiß' ich flugs in Stücken,

Kann mit einer neuen Nath

Alte Fetzen wieder flicken –

Bin ich nicht ein Diplomat?


Guter Wein lehrt gut Latein.

Komm' ich an die letzten Tropfen,

Ist mir nichts mehr gut genug;

Und ich riech' an meinem Pfropfen,

Kritisire den Geruch.

Leer ist meine Westentasche,

Und der Wirth liebt baares Geld. –

Schafft mir eine neue Flasche,

Oder eine neue Welt!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 91-92.
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