Vergangenheit

[92] Wann im Kreise froher Zecher

Ich in meinen vollen Becher

Schaue hellen Blicks hinein,

Wann um mich die Gläser klingen,

Und die Freunde Lieder singen

Dir zur Ehren, deutscher Wein!


Dann, dann steht's vor meinen Blicken,

Wie die goldnen Trauben nicken

Nieder in den klaren Fluß,

Wie die Wogen lustig rauschen,

Und die Winzerinnen lauschen

Auf des Fischers Abendgruß.


Und der Mond am stillen Himmel

Freut sich mit an dem Getümmel,

Das er auf der Erden sieht,

An den Fässern mit den Kränzen,

An den Liedern und den Tänzen,

Bis er sacht von dannen zieht.


Zündet an die bunten Lichter,

Daß die seligen Gesichter

Nicht die finstre Nacht bedeckt!

Wer zu selig für das Helle,

Sucht sich eine dunkle Stelle,

Wo kein Nüchterner ihn neckt.


Auch die Liebe kennt viel Wege

In dem grünen Weingehege,

Und sie alle stehn ihr an;

Denn auf krummen und geraden,

Breiten oder engen Pfaden

Geht's in Amors Kanaan.


Brüder, laßt die Gläser klingen,

Laßt ein frohes Hoch uns bringen

Unsrem alten deutschen Rhein,

Ihm und seinen jungen Reben,

Daß dies Jahr uns möge geben

Einen neuen Elferwein!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 92-93.
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