Schlechte Zeiten, guter Wein

[78] Über schlechte Zeiten

Klag' ich nimmermehr,

Wird von gutem Weine

Nur mein Faß nicht leer.


Willst die Zeitung lesen?

Bruder, geh' zu Bier!

Zu dem Saft der Reben

Schmeckt kein Löschpapier.


Ob auf dieser Erden

Auch von Tag zu Tag

Matter, kälter, schwächer

Alles werden mag:
[78]

Doch der Wein im Fasse

Trotzt der Macht der Zeit,

Fühlet nichts vom Alter

Als die Würdigkeit.


Was das Jahr dem Menschen

Allgemach entrafft,

Das, das giebt's dem Weine:

Gluth und Muth und Kraft.


Wollen's wieder holen

Aus dem Faß hervor,

Was im Flug der Jahre

Jeglicher verlor!


Und wer mit dem Leben

Lebt in Leid und Streit,

Trink' aus altem Fasse

Alte gute Zeit!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 78-79.
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