Selbstgenügsamkeit des Zechers

[80] Wenn ich trinke guten Wein,

Fällt es mir mit nichten ein,

Über dieser Erde Schranken

Aufzuschwingen die Gedanken,

Und zu schaun in blaue Fernen

Nach des ew'gen Ruhmes Sternen.

Wenn ich trinke guten Wein,

Will ich nicht im Himmel sein.


Wißt ihr von dem Phaeton,

Phöbus naseweisem Sohn,

Der auf seines Vaters Wagen

Wollte durch den Himmel jagen?

Jupiter mit seinem Blitze

Schmettert' ihn vom Kutschersitze

Häuptlings in den Po hinab,

Und das Wasser ward sein Grab.


Anders ging es nicht dem Kind,

Das aus Kreta's Labyrinth

Wollt' auf seinen eitlen Schwingen

Grad' empor zur Sonne dringen.

Bald zerschmolz das Wachsgefieder,

Und der Vogel stürzte nieder:

In des Meeres bittrer Fluth

Büßt' er seinen tollen Muth.
[80]

Phaeton und Ikarus,

Du im Meer, und du im Fluß,

Hättet ihr hübsch Wein getrunken,

Nimmer wäret ihr gesunken

Von dem hohen Himmelsbogen

In die tiefen Wasserwogen:

Die da trinken guten Wein,

Wollen nicht im Himmel sein.


Wenn ich trinke guten Wein,

Fällt mir oft eur Schicksal ein,

Und ich blick' als frommer Zecher

Nieder in den engen Becher,

Nicht empor nach Ehrensternen,

Nicht hinaus in blaue Fernen:

Wenn ich trinke guten Wein,

Mein' ich, was ich will, zu sein.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 80-81.
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